Annette Böcklers Homepage
Erschienen in:
Zeitzeichen 2 (2001), S. 22-24

(Im Folgenden finden Sie die Druckfassung des Artikels.)

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Mal barmherzig, mal autoritär
Die Entwicklungsgeschichte einer Gottesvorstellung

ANNETTE BÖCKLER

Die Vorstellung, Gott handle wie ein Vater, war im alten Orient weit verbreitet. Wie sie sich in Israel weiter entwickelt hat und neue Aspekte hinzugetreten sind, schildert Annette Böckler, promovierte Alttestamentlerin und Lektorin in der Jüdischen Verlagsanstalt Berlin.


"Unser Vater", mit diesen Worten reden Juden und Christen Gott an. Dies war lange Zeit klar und verständlich. Ein Bild wirft aber dann Fragen auf, wenn es nicht mehr unmittelbar einleuchtet. Dies gilt in der Gegenwart für die Bezeichnung Gottes als Vater. Sie ist heute oft nicht mehr nachzuvollziehen. Oder sie ist zumindest umstritten. Traditionelle Erwartungen sind heute in Frage gestellt. Und so muss auch die Vaterrolle muss in jeder Familie neu definiert werden. Stärker als in früheren Zeiten wachsen Kinder ohne ihre leiblichen Väter auf, finden Söhne in ihren Vätern keine Vorbilder, verbinden Frauen und Männer mit dem Begriff "Vater" traumatische Erfahrungen. Aufgrund dieses veränderten gesellschaftlichen Bewusstseins stellen heute viele Menschen patriarchale Gottes-vorstellungen grundsätzlich in Frage.

Die heutige Verwendung des Bildes von Gott dem Vater wurzelt im Alten Testaments. Es war in der Bibelwissenschaft bis vor kurzem kein Forschungsthema. Vielleicht weil seine Bedeutung klar zu sein schien. Deshalb verbreiteten sich Erkenntnisse der Forschung des 19. Jahrhunderts, die keine exegetische Grundlage haben, sondern auf beiläufigen Äußerungen zu Gott als Vater im Rahmen anderer Untersuchungen basierten. Allgemein verbreitet ist heute die Auffassung, dass das Alte Testament nur selten von Gott als dem Vater redet, nicht zuletzt deshalb, weil man sich von einem mythologischen Verständnis der Umwelt abgrenzen wollte. Israel hat danach jenes Bild, das außerisraelitischen Ursprungs war, aufgegriffen und entmythologisiert.
Die Vaterschaft werde im Alten Testament nicht physisch verstanden und beziehe sich – im Unterschied zum Neuen Testament – (noch) nicht auf Individuen, sondern (nur) auf das Volk als Ganzes. Die Rede von Gott als Vater umschreibt für einige seine Liebe und Barmherzigkeit, für andere seine Autorität und Macht. Diese Deutung Gottes als Vater basiert nicht auf exegetischen Forschungen.

Die Rede von einem Gott als Vater war im Alten Orient zu allen Zeiten allgemein verbreitet. Der Begriff "Vater" umfasst in den semitischen Sprachen ein sehr viel größeres Bedeutungsspektrum als unser deutsches Wort. Er kann das Familienoberhaupt bezeichnen, einen Vorfahren, einen Lehrer oder sogar einen Fachmann. Wenn im Alten Orient Götter als Väter bezeichnet werden, dann hängt die Bedeutung des Bildes vom Charakter der betreffenden Gottheit ab. Bezogen auf den mesopotamischen Himmelsgott "Anu", der den Menschen sehr fern war, bringt "Vater" die übergroße Autorität dieses Gottes zum Ausdruck. Ganz anders bei dem Schöpfer- und Heilungsgott Marduk. Hier steht "Vater" für die Barmherzigkeit dieses Gottes. Dieser allgemeine Gebrauch des Wortes entspricht dem Gebrauch von aw "Vater" im "Alten Testament".

Gott der Vater, Israel der Sohn

Die alttestamentliche Vorstellung von Gott als Vater wurzelt in der vorexilischen, judäischen Königsideologie. Gott galt als Vater des davidischen Königs. In der Nathanweissagung, die das Zweite Samuelbuch überliefert, hat sich diese Vorstellung mit der Zusage der ewigen Treue Gottes zum davidischen Königshaus verbunden. Diese Verheißung würde selbst dann gültig bleiben, wenn der Sohn Davids sich versündigte. Dann würde ihn Gott nur mit humanen Strafen züchtigen, aber niemals seine Gunst entziehen. Das definitive Ende der davidischen Herrschaft in Juda durch das babylonische Exil stellte diese Aussage nun grundlegend in Frage: Land und Thron waren verloren. Die Theologen des Exils konnten die Verheißung aber in einer neuen Weise deuten und mit dem Vaterbild nach wie vor Gottes ewige Treue verkündigen. Sie übertrugen die Vorstellung von Gott, dem Vater, durch die Verbindung mit dem ebenfalls vorexilischen Bild von Israel als Gottessohn auf das gesamte Volk. Und das existierte ja auch mitten im Exil. So verschmolzen zwei ursprünglich unterschiedliche Traditionen und damit auch zwei verschiedene Bedeutungen. Dem ganzen Volk galt nun einerseits die Zusage der ewigen Treue Gottes und seiner steten väterlichen Vergebungsbereitschaft. Andererseits blieb die Forderung erhalten, als "Gottes Sohn" Gott gehorsam zu sein (vergleiche Hosea 11). Da die Vorstellung von Israel als Sohn Gottes in der Tradition vom Auszug aus Ägypten verankert war (siehe auch Exodus 4), brachte sie diesen Zusammenhang mit in das Gott-als-Vater-Bild ein.

In Jer 31, Vers 9 findet sich der älteste Beleg für die Vorstellung von Gott als aw „Vater“. Dort heißt es, dass Gott einen neuen Auszug bewirken werde und sich aus den

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Verbannten ein neues Volk schaffen könne, so wie er es früher beim Auszug aus Ägypten und in der Wüstenzeit schon einmal getan hatte. Weil Gott dem davidischen Königshaus ewig die Treue halten wollte, werde er sich nun dem judäischen Volk gegenüber als Vater erweisen. Er würde ihre Verfehlungen nur strafen, aber Davids Volk nie aufgeben. Die exilische Verkündigung von Gott, dem Vater, ist also das Ergebnis einer theologischen Verschmelzung zweier Vorstellungen: Gott als Vater und Israel als Gottes Sohn.

In der nachexilischen Zeit trat der Aspekt der väterlichen Treue Gottes in den Hintergrund. Denn jetzt war ein Kult in Jerusalem wieder möglich und die Treuezusage Gottes bereitete keine theologischen Probleme. Stattdessen drängten sich andere Themen auf. Aus der Vaterschaft Gottes wird die Erwartung abgeleitet, dass das Volk Gottes Gebote hält.
Die nachexilischen Autoren verwandten das Bild häufig und freier und lösten es zum Teil von seinem Bezug zum Exodus ab. Der Gebrauch in den rhetorischen Fragen im Maleachibuch könnte sogar darauf hindeuten, dass awinu "unser Vater" im Kult des zweiten Tempels eine liturgische Anrede für Gott war. Maleachi würde in diesem Fall die Kritik am Verhalten der Priester durch die Aufnahme einer aus der Liturgie bekannten Vorstellung begründen: Ihr sagt, Gott ist unser Vater, dann verhaltet euch doch auch entsprechend!


Generell gilt – bis auf die Ausnahme von Psalm 68, Vers 6 –, dass die Rede von Gott als Vater ein wechselseitiges Verhältnis zum Ausdruck bringt. Das Bild von Gott als Vater umschreibt einen Vergebungszuspruch und einen Gehorsamsanspruch. Korrekterweise müsste man also von der „Gott-als-Vater-Israel-als Sohn-Vorstellung“ sprechen. Gott ist nur aufgrund seiner Söhne ein Vater, der die Gehorsamen belohnt und die Widerspenstigen straft. Andererseits wird Gott sich dann vergebend als Vater erweisen, wenn seine Söhne ihn achten. Dennoch bleibt diese Wechselseitigkeit eine hierarchische Beziehung. Aber nicht das Bild an sich ist patriarchalisch,

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sondern die hinter ihm stehende, hierarchisch gedachte antike Gottesvorstellung. Gott bräuchte nicht Vater sein, aber umgekehrt haben die Söhne nicht die freie Wahl. Sie können nur zwischen Gehorsam oder Ungehorsam entscheiden. Aufgrund der bleibenden Kindschaft ist die Umkehr zu dem ewig die Treue haltenden, vergebenden Vater freilich jeder Zeit möglich. Vergebung erfährt der, der im Glauben an die Treue des Vaters zu ihm zurückkehrt. Diese Wurzeln prägten und prägen die Verwendungsweisen des Bildes im Judentum und im Christentum bis heute.

Eine chassidische Geschichte bringt die alttestamentlichen Rede von Gott als Vater anschaulich zum Ausdruck. Diese Geschichte verwendet – wie viele Geschichten und Gleichnisse im Judentum – den Begriff „Sohn“ als geprägte Metapher für Israel und der Begriff „Vater“ steht selbstverständlich für den Gott Israels:
„Einmal machte ein Vater mit seinem Sohn eine Reise in einem Wagen. Sie kamen an einem Waldrand vorbei. Da erregten einige Sträucher voll mit köstlichen Beeren die Aufmerksamkeit des Kindes. ‚Vater‘, fragte es, ‚könnten wir nicht einen Moment anhalten? Ich möchte Beeren pflücken.‘ Der Vater hätte seine Reise lieber fortsetzen wollen, konnte es aber nicht übers Herz bringen, die Bitte seines Sohnes abzuschlagen. So ließ er den Wagen anhalten, und der Sohn stieg aus, um Beeren zu pflücken. Nach einer Weile wollte der Vater die Reise fortsetzen. Sein Sohn aber war in das Beeren pflücken so vertieft, dass er sich nicht von dem Wald trennen konnte. ‚Kind!‘, rief der Vater, ‚wir können hier nicht den ganzen Tag bleiben. Wir müssen unsere Reise fortsetzen!‘ Aber selbst die Bitten des Vaters konnten den Jungen nicht von den Beeren weglocken. Was sollte der Vater nun tun? Er liebte das Kind nun selbstverständlich nicht weniger wegen seines kindlichen Verhaltens. Er konnte es nicht allein zurücklassen. Aber er musste auch seine Reise dringend fortsetzen. Schließlich rief er: ‚Hör zu! Du darfst noch eine Weile Beeren plücken, aber prüfe dabei ständig, ob du mich wiederfinden kannst, denn ich werde jetzt ganz langsam die Reise fortsetzten. Während du beschäftigt bist, rufe alle paar Minuten ‚Vater! Vater!‘ und ich antworte dir dann. Solange du mich hören kannst, bin ich noch in deiner Nähe. Wenn du mich nicht mehr hören kannst, dann hast du mich verloren. Dann renn mit all deiner Kraft, damit du mich wiederfindest!‘“ (Aus: Zitiert nach Seder ha-Tefillot. Das jüdische Gebetbuch, hg. von Jonathan Magonet und Walter Homolka, Übersetzung von Annette Böckler, Gütersloh 1997, Band II, S. 71.)


LITERATUR
Böckler, Annette, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000.
Strotmann, Angelika, Mein Vater bist du! Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt am Main 1991.