Annette Böcklers Homepage
Erschienen in Keschet 8 (2003), Ausg 3 Nisan 5763), S. 3




Was heißt "liberal" ?


Im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter "liberal" eine tolerante, lockere, freie, bewegliche Einstellung, die sich gegen jede Form von Starrheit richtet. Ein "liberales" Judentum wäre so verstanden ein Judentum, dass die Halacha (dem Religionsgesetz) nicht ganz so genau hält und Beliebigkeit akzeptiert. - Genau das aber ist ein Missverständnis, das aus einem falsch verstandenen Gebrauch des Wortes "liberal" herrührt.

Die Ursache dieses Missverständnisses liegt in einem doppelten Gebrauch des Wortes "liberal" in der deutschen Geistesgeschichte. Es gibt einen politischen Liberalismus und einen theologischen Liberalismus.



POLITISCHER SPRACHGEBRAUCH

Der allgemeine Sprachgebrauch basiert auf dem politischen Begriff. "Liberal" geht auf das lateinische "liberalis" ("eines freien Mannes würdig; edel, vornehm, anständig") zurück und kam im ausgehenden 18. Jahrhundert als französisches Fremdwort nach Deutschland. Hier bedeutet es "frei" und meint einen jener Werte, den die Franzöische Revolution erkämpft hatte.

Im politischen Sprachgebrauch bezeichnet "liberal" bis heute die Sicherung der persönlichen Freiheit eines jeden Menschen. Freiheit ist hier gleichbedeutend mit Individualismus. Der Begriff zielt auf den Einzelnen ab und richtet sich gegen ihm aufer-legte Zwänge. Als politischer Begriff ist "liberal" der Gegenbegriff zu "fremdbestimmt".



RELIGIÖSER SPRACHGEBRAUCH

Im religiösen Sprachgebrauch wird der Begriff völlig anders verwendet.
Der religiöse Liberalismus entstand im 19. Jahrhundert. Er griff die Anliegen des älteren politischen Liberalismus auf und entwarf auf dessen Grundlagen ein neues religiöses System. Dieser theologische Liberalismus prägte damals den Geist vieler moderner Geisteswissenschaftler und bildete die Grundlage für die Entstehung der "Wissenschaft des Judentums".

Im religiösen Liberalismus steht nicht der Einzelne an sich als Individualist im Vordergrund, sondern sein Verhältnis zur religiösen Tradition und zu religiösen Institutionen.


Als theologischer Begriff ist "liberal" der Gegenbegriff zu "fundamentalistisch"
, meint also einen aufgeklärten (d.h. "liberalen") Umgang mit der religiösen Tradition. Bis heute ist "liberal" der Schmähbegriff von Fundamentalisten gegen diejenigen, die zeitgenössisch religiös sind.



LIBERALES JUDENTUM

Konkret bedeutet religiöser Liberalismus folgendes: Das Liberale Judentum geht - wie die Liberale Theologie - nicht von einer einmaligen Offenbarung Gottes am Sinai aus – da die historische Wissenschaft erwiesen hat, das dies kein historisches Ereignis gewesen sein kann –, vielmehr versteht das liberale Judentum Offenbarung Gottes als einen fortdauernden historischen Prozess. Die religiösen Schriften des Judentums sind ebenso historisch entstanden. Das Liberale Judentum heißt daher auch "Progressives Judentum", weil es die Offenbarung Gottes "progressiv" (fortschreitend) versteht. Es geht im liberalen Judentum also nicht um "etwas weniger Halacha", sondern um einen grundlegend anderes Verhältnis zu religiösen Traditionen.


Dieser moderne, rationale Zugang zur Tradition hat Konsequenzen für das jüdische Leben. Die Tora gilt im Liberalen Judentum als göttliches Wort, weil sie das Zeugnis der Begegnungen unserer Vorfahren mit dem Göttlichen ist, nicht weil Gott sie Mose wörtlich diktiert hat, wie die Orthodoxie lehrt. Daraus folgt, dass die Tora samt der auf ihr basierenden jüdischen Tradition in einem geschichtlichen Prozess entstanden ist und bis heute steht. Rabbiner W.G. Plaut beschreibt in seiner "Allgemeinen Einführung in die Tora" die Grundlagen und die Folgen dieses Zuganges zur Tora (siehe W.G. Plaut (Hg.), Die Tora in jüdischer Auslegung Band I, Gütersloh 1999, S. 19-26).


Dieses andere "liberale" Verständnis der Offenbarung unterscheidet das Liberale Judentum grundsätzlich von der Orthodoxie. Für die Orthodoxie wurde die gesamte Tora in ihrer mündlichen und schriftlichen Gestalt Mose von Gott am Sinai gegeben. Jeder Buchstabe der gesamten jüdischen Tradition ist daher heilig und kein Satz darf hinterfragt werden. Das Liberale Judentum aber hinterfragt, denn es betrachtet religiöse Texte als historisch gewordene Dokumente. Das liberale Judentum versucht seit seiner Entstehung im 19. Jh. mit größtem Ernst, die Erkenntnisse, die ein moderner, aufgeklärter, zeitgenössischer Mensch hat, ehrlich und konsequent mit der jüdischen Religion in Einklang zu bringen. Vorbilder für solche Symbiosen sind Moses Maimonides und Moses Mendelssohn.



LIBERALES JÜDISCHES LEBEN

Der liberale Zugang zur Tradition beschreitet daher einen anderen Weg für halachische Entscheidungen als in der Orthodoxie - daher wirft die Orthodoxie aus ihrer Sicht dem liberalen Judentum oft vor, es halte die Halacha nicht. (Halacha bedeutet die Antworten auf Fragen nach dem Wie des jüdischen Lebens.) Für liberale Juden aber gilt tatsächlich: Wie in der Orthodoxie ist die Tora in ihrer schriftlichen und mündlichen Form die Grundlage für eine halachische Entscheidung, aber während das orthodoxe Judentum die Tradition wörtlich und aus sich selbst heraus interpretiert, berücksichtigt das Liberale Judentum auch moderne Methoden der Geschichte, Literaturwissenschaft, Naturwissenschaft und Psychologie. Das Liberale Judentum trägt dem Rechnung, dass man einem modernen, in einer Demokratie lebenden Menschen kein autoritäres halachisches System auferlegen kann, sondern dass die Verantwortung für die eigene Religiosität beim Einzelnen liegt. Jeder und jede muss für sich verantworten - aber eben auch bewusst verantworten können -, wie er seine Religion gestaltet. (Zur Liberalen Halacha siehe die Bücher von Moshe Zemer, Jüdisches Religionsgesetz heute, Neukirchen 1999 und J.D. Rayner, Jewish Religious Law. A Progressive Perspective, London 1998.)

Im Liberalen Judentum gibt es keine autoritäre, außerhalb der eigenen Verantwortung lie-gende halachische Instanz. Wie aber löst man dann ein jüdisches Problem? - Indem man, nachdem man sich das größtmögliche Wissen eingeholt hat, in Verantwortung vor Gott, der jüdischen Tradition und seinem Gewissen Prioritäten abwägt. Was ist für ein religiöses jüdisches Leben wichtiger: der Besuch des Gottesdienstes oder das Verbot des Autofahrens oder die Ehrlichkeit? Was ist wichtiger: das Kerzenanzünden zu einer festen, vorgeschrie-benen Zeit oder dass jemand am Schabbat überhaupt zur Ruhe kommt, und sei es erst spät am Freitagabend. Was ist wichtiger: das Hören des Schofar oder die Einhaltung des Verbotes, am Schabbat nichts hinein-und hinauszutragen (z.B. das Schofar)? Was ist wichtiger: Das Beten von Worten, die seit dem 16. Jh. so gesagt wurden oder dass der Beter darüber nachdenkt, was er da eigentlich sagt und weiß, warum er es sagt? U.s.w. - Und wie bereits gesagt: die Entscheidungen dürften nicht schnell getroffen werden, sondern erst nach einem gründlichen Studium der Antworten unserer Vorfahren und dem Versuch, diese zu verstehen.

Ein liberales jüdisches Leben verlangt also mündige und wissende jüdische Menschen. Im Zentrum eines liberalen jüdischen Lebens steht daher das Lernen der jüdischen Tradition sowie der modernen Wissenschaften, das gemeinsame Diskutieren in der Gemeinde und das ständige Gespräch mit Gelehrten und Rabbinern, um die eigene Religion verantwortlich zu gestalten.

Auf der ersten Tagung der World Union for Progressive Judaism 1928 in Berlin stellte Rabbiner Leo Baeck fest: "Den Orthodoxen macht der Schulchan Aruch vieles leichter, nur scheinbar schwerer: er hat die fertige Antwort, er hat die fertige Entscheidung; er weiß in jeder Stunde, was er tun soll und wie er es tun soll. Liberal zu sein ist so viel schwerer."

Einer der Anwesenden, der Rabbiner der Liberal Jewish Synagogue in London, sagte be-eindruckt von Baecks Rede:
"Ich hoffe, niemand verlässt diese Konferenz mit der Vorstellung, dass liberales Judentum für ein 'Minimum' steht, es steht vielmehr für ein 'Maximum' … dieses Judentum bedeutet, dass die 'ganze Persönlichkeit' gefragt ist … alles, was ein Mensch geben kann. Dafür gibt es das liberale Judentum." (Beide Zitate aus: First Conference of the World Union of Progressive Judaism at Berlin, Saturday, August 18th - Sunday, August 20th, 1928.)