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Eine leicht gekürzte Version dieses Artikels erschien in:
A.M. Böckler,
Jüdische Frauen beten. Abriss einer Erfolgsstory, Schlangenbrut 23 (2005), 14-18 u. 33.

Jüdische Frauen beten

Abriss einer Erfolgsstory

 

Annette M. Böckler

INHALT


Jüdisches Beten

Das Vorbild des Beters: Hanna

Jüdisches Religionsgesetz über das Beten (5. - 16. Jh.)

Das Gebetbuch der Männer (seit dem 9. Jh.)

Das Beten der Frauen (13. - 16. Jh.)

Techines (16. - 20. Jh.)

Frauengebetbücher (19. und 20. Jh.)

Rosch Chodesch Gruppen und neue Rituale für Frauen (seit 1971)

Orthodox Women's Prayer Groups (seit 1972)

Egalitärer Minjan (seit Ende 60er Jahre)

Neue Gebete (passim)

Offizielle Gebetbücher des liberalen und konservativen Judentums (seit 1995)

Orthodoxe Frauen lesen aus der Tora (seit 2001)

QUELLEN
Amy Blank, Warum (1975)

Hannas Gebet

"nicht als Frau geschaffen"

Gebet einer Schwangeren (1804)

Fanny Neuda, Schabbatbeginn (1874)

Berta Pappenheim, Gebet (1933)

Konzentrationslager Ravensbrück

Hanna Senesh (vor 1944)

Miriam ha-neviah

Sarah: Schabbat (1999)

 


Jüdisches Beten

"Das Gebet ist eine völlig irrationale Angelegenheit. Ich weiß, daß ich Gott keine Informationen über meine Bedürfnisse zu geben brauche. Ich weiß auch, daß ein sterblicher Mensch Gott nicht loben und preisen kann. Das bedeutet, daß alle Gebete nur zum Formalismus der Gottesverehrung gehören. … Die Formulierung des Gebetes ist ähnlich wichtig wie die Formulierung der Opferbestimmungen. … Liegt denn die Bedeutung des Opfers am Schabbat in den zwei Schafen? Nein. Es könnten auch durchaus drei Ziegen sein. Aber es ist eben so festgesetzt worden … die Gebetsform des Gottesdienstes heute besteht in eben jenen Formulierungen, die wir betend sprechen."[1] Mit dieser Aussage brachte Jeschajahu Leibowitz den Charakter traditionellen jüdischen Betens auf den Punkt. Der Gottesdienst, der geboten wurde, ist das Tieropfer. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 d.Z. wurde es auf der Basis von Texten wie Hos 14,3; Ps 51,17-19 rechtsgültig durch das Gebet ersetzt.[2] Im Judentum ist das Beten eine religiöse Pflicht, die der Mensch ähnlich wie das Opfer in der Antike zu festgelegten Zeiten erfüllt. Von zeitgebundenen Pflichten aber sind Frauen in der jüdischen Tradition "befreit".

 

 

 

 

[1] Jeschajahu Leibowitz mit Michael Shashar, Gespräche über Gott und die Welt, hg. von Michael Shashar. Übersetzt von Matthias Schmidt, Frankfurt/Main 1990, 151f.

[2] Vgl. z.B. babyl. Talmud, Joma 86b. Zur Geschichte des jüdischen Betens siehe Annette Böckler, Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur, Berlin 2002, 149-184.

"Weshalb muß ich zu dir reden?

Ich glaube nicht meinen Worten

oder daß du hörst.

Soll dieses Staubkorn das wirbelnde Weltall anreden?

Du bist mir wie gar nichts

wenn du nicht Ha-Rachaman (der Barmherzige) bist.

Aber du bist nicht barmherzig:

das bezeugt der blinde Wurm,

dein Volk.

Laß Schweigen zwischen uns sein;

laß die Erde ihren Mund schließen;

ich will nicht zu dir sprechen."

         Amy Blank (1975)

         (Aus dem Amerikanischen von Pnina Navè Levinson)[3]

[3] Pnina Navè Levinson, Esther erhebt ihre Stimme. Jüdische Frauen beten (GTB 538), Gütersloh 1993, 26f.

Das Vorbild des Beters: Hanna[4]

Es war ein Mann, sein Name war Elkana. Er hatte zwei Frauen, der Name der einen war Hanna, der Name der anderen war Pninna. Pninna hatte Kinder, Hanna aber hatte keine Kinder. Pninna fügte Hanna Kränkung über Kränkung zu und hielt ihr vor, der Ewige habe ihren Mutterschoß verschlossen. Da weinte Hanna und aß nicht mehr. Sie stand auf und ging vor die Türpfosten des Heiligtums, sie war verbitterten Gemüts, betete zum Ewigen und weinte sehr. "Ewiger, wenn du sehen wirst auf das Elend deiner Magd und meiner gedenkst und deine Magd nicht vergisst und deiner Magd einen Sohn gibst, so will ich ihn dem Ewigen weihen alle Tage seines Lebens" (nach 1Sam 1,1-13). Die Rabbinen stellten diese betende Frau als das Vorbild aller BeteR (!) dar und leiteten die religionsgesetzlichen Bestimmungen über die Ausführung des Gebets von ihr ab. "'Sie redete in ihrem Herzen' (1Sam 1,13) – hieraus kann man entnehmen, dass der Betende sein Herz andächtig stimmen muss. 'Nur ihre Lippen bewegten sich' – hieraus kann man entnehmen, dass der Betende mit seinen Lippen deutlich spreche. 'Und ihre Stimme wurde nicht gehört' – hieraus kann man entnehmen, dass man beim Beten die Stimme nicht erheben darf. usw." (bBer 31a). Bis heute wird das Hauptgebet des jüdischen Gottesdienstes, die Amida, in traditionellen Gottesdiensten von jedem einzelnen konzentriert, leise, aber mit Lippenbewegung gesprochen. Jeder Mann ahmt auf diese Weise bis ins Detail das Handeln einer betenden Frau nach.

[4] Nach der fiktiven Zeit der Erzählung spielt die Geschichte im 11. Jh. v.d.Z. Das Alter der Erzählung selbst und vor allem des Gebetes ist umstritten, die Datierungen variieren zwischen dem 10. bis 6. Jh. v.d.Z.

Und Hanna betete und sprach:

 

Es jubelt mein Herz in dem Ewigen;

erhöht ist meine Kraft durch den Ewigen.

Weit geöffnet ist mein Mund über meine Feinde,

denn ich freue mich deiner Hilfe.

Der Ewige tötet und macht lebendig,

senkt in die Gruft und hebt empor.

Der Ewige macht arm, macht reich,

erniedrigt, doch erhört er auch.

Er richtet empor aus dem Staube den Armen

aus dem Kot erhöht er den Dürftigen,

daß er ihn setze neben die Edlen,

den Ehrenthron teilt er ihnen zu.

         1. Samuel 2,1.6-8

5] Siehe hierzu vor allem: Rachel Adler, The Jew Who Wasn't There. Halakhah and the Jewish Women, in: Susannah Heschel, On Being A Jewish Feminist. A Reader, New York 1983, 12-18.

[6] Siehe vor allem babyl. Talmud, Berachot 20a-b. Verpflichtet wird eine Frau zur Amida, nicht aber zum Schma.

[7] Nach Eruwin 96b; Kidduschin 34a; Menachot 43a ist dies nicht verboten, aber auch nicht verpflichtend. Nach dem Kommentar zum Schulchan Aruch von Moses Isserles (16. Jh.) dürfen Frauen Zizit tragen, es sähe jedoch dumm aus (zu Orach Chajjim 17,2). Das Tragen von Tefillin wird verboten, da Frauen es nicht verstünden, sich rein zu halten (Orach Chajjim 38,3 und Kommentar von Isserles z.St.; 16. Jh.).

[8] Babyl. Talmud, Megilla 23a zufolge ist es erlaubt.

 

Jüdisches Religionsgesetz über das Beten (5. - 16. Jh.)

Die jüdische Religion ist die Umsetzung von Texten ins Leben. Auch das jüdische Gebet als eine religiöse Pflicht muss sich daher auf die jüdische Überlieferung gründen. In den religionsgesetzlichen Texten, die von Männern verfasst wurden[5], wird diskutiert, ob Frauen zum Gebet verpflichtet seien[6], ob sie Gebetsschal (Tallit) und Gebetsriemen (Tefillin) tragen sollen[7], ob sie zur Tora aufgerufen werden können[8], ob sie aus ihr vorlesen sollen[9] und ob sie zum Minjan, der kleinstmöglichen Öffentlichkeit für ein Gebet, dazuzählen[10]. Im Ergebnis sind Frauen zu nichts verpflichtet und sollen es öffentlich unterlassen um der Ehre der Gemeinde willen. "'Gemeinde', das waren die Männer. Hätte sich eine Frau ihnen überlegen gezeigt, so hätten sie sich in ihrer Ehre verletzt gefühlt. Dies durfte nicht sein", schreibt Leo Trepp in seiner Darstellung des jüdischen Gottesdienstes.[11] Im Laufe des Mittelalters wird das Gebet von Frauen zunehmend mit Verboten belastet. Seit dem 11. Jh. beten Männer und Frauen sogar räumlich voneinander getrennt[12]. Marianne Wallach-Faller wies darauf hin, dass die Kodifizierungen des Religionsgesetzes wiederholt in Zeiten stattfanden, die von einer frauenfeindlichen gesellschaftlichen Atmosphäre geprägt waren[13]. Die Mischna wurde in der römischen Zeit redigiert (um 200 d.Z.), Maimonides übernahm seine frauenfeindliche Position von Aristoteles, der Schulchan Aruch (16. Jh.) entstand zur Zeit der Hexenprozesse, etc. Bibel und Midrasch sind frauenfreundlicher als das spätere Recht.[14] Die religionsgesetzlichen Texte spiegeln jedoch sämtlich offene Diskussionen wider und die Verbote beruhen auf schwachen Argumenten. Erst mit der zunehmenden religiösen Bildung von Frauen in der Neuzeit haben Frauen selbst diese entkräftet.[15]

[9] Nach Megilla 23a wäre ist erlaubt, sollte aber um der Ehre der Männer willen unterbleiben. Maimonides (12. Jh.) verbietet es in Hinblick auf die Würde der Gemeinde (Mischne Tora, Hil. Tefillin 12,16), Ritba (13./14. Jh.) kommentiert, Männer würden sonst beschämt werden. Der erste, der davon spricht, dass es überhaupt nicht üblich sei, Frauen aufzurufen, ist Joschua Falk (16./17. Jh.) in Lublin. Siehe Marianne Wallach-Faller, Veränderungen im Status der jüdischen Frau. Ein geschichtlicher Überblick, in: dies., Die Frau im Tallit, hg. von Doris Brodbeck und Yvonne Domhardt, Zürich 2000, 59-80.

[10] Der Talmud spricht nirgends von zehn Männern, siehe Berachot 21b; Megilla 23b. Frauen nahmen häufig am Gebet teil (Awoda Sara 38a-b; Sota 22a; 38a). Es gab zur Zeit des Talmuds keine räumliche Trennung. Simcha von Speyer meinte, Frauen könnten zum Minjan gezählt werden.

[11] Leo Trepp, Der jüdische Gottesdienst. Gestalt und Entwicklung, 2. Aufl. Stuttgart 2004, S. 296.

[12] Wallach-Faller, Veränderungen (Anm. 9), 72.

[13] Wallach-Faller, Veränderungen (Anm. 9).

[14] Die Bibel kennt neben Hanna etliche weitere betende Frauen, z.B. Mirjam (Ex 15,20; Riwka, Lea und Rachel (Gen 25,21f; 30,6.17.22.24). Der Midrasch erweiterte die Zahl der Beterinnen. Esther flehte um Rettung für ihr Volk (EstR 8,7, vgl. auch Targum Scheni und Septuaginta). Psalm 22 wird Esther zugeschrieben (MTeh zu Ps 22). Rachel stand von den Toten auf, um fortwährend für die Kinder Israels im Exil zu bitten (BerR 63,5; 70,16; 71,2; 72,6; 82,10.) Dies basiert auf der Auslegung von Jer 31,15f.

 

Das Gebetbuch der Männer (seit dem 9. Jh.)

Im jüdischen Kanon der Gebete, den Raw Amram im 9. Jh. d.Z. in Babylonien definierte, fehlt die Stimme von Frauen vollständig.  Nicht nur wurden die Anliegen von Frauen nicht berücksichtigt, Frauen sind als Beterinnen sogar ausgeschlossen, indem die hebräischen Formen sprachlich sämtlich im maskulin stehen und die Gebetsordnung Texte enthält wie "Gepriesen seist du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Frau erschaffen hat." Der heute in traditionellen Gemeinden benutzte Siddur basiert auf den liturgischen Entwicklungen bis ins 16. Jh. und schließt bis heute Frauen dezidiert aus.

. [15] Die erste kritische Prüfung geschah durch Regina Jonas, siehe: Elisa Klapheck (Hg.), Fräulein Rabbiner Jonas - Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?, 2. Aufl. Teetz 2000. Siehe ferner: Abraham Weiss, Women at Prayer. A Halakhic Analysis of Womens Prayer Groups, Hoboken.New Jersey 1990. Viele halachische Untersuchungen finden sich auch in den Responsa der CCAR sowie auch der konservativen Bewegung.

Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich  nicht als Nichtjude erschaffen hat. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Knecht geschaffen hat. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Frau erschaffen hat. (Frauen sprechen stattdessen: … der mich nach Seinem Willen erschaffen hat.)

Aus dem täglichen orthodoxen Morgengebet.[16]

 

16] Deutsche Übersetzung zitiert nach Siddur Schma Kolenu, Basel 2001, S. 25.
   

Das Beten der Frauen (13. - 16. Jh.)

Dennoch beteten Frauen, wenn auch zum Teil anders als die Männer. Im sefardischen Bereich komponierten und sangen Frauen bei häuslichen Zeremonien wie Hawdala oder Beschneidung religiöse Lieder in ihrer Umgangssprache, d.h. in Ladino ("Judenspanisch").[17] Frauen im aschkenasischen Bereich besuchten die Synagogen und beteten seit dem 12./13. Jh. in der eigens für sie errichteten Frauensynagoge, die an die Männersynagoge angrenzte. Dort leitete eine gebildete Frau, oft die Frau oder Tochter des Rabbiners, das Gebet, wie z.B. Urania, Tochter von Rabbi Awraham oder Dulcie, Frau von Rabbi Elasar von Worms ("haRokeach") und Richenza aus Nürnberg (alle 13. Jh.). In Osteuropa erklärte eine firsogerin oder sogerke in der Umgangssprache, d.h. in Jiddisch, was die hebräischen Texte besagten und bedeuteten. Durch den Buchdruck schließlich konnten die Texte von oder für die Frauen erstmals größere Verbreitung finden. Eine Erfolgsgeschichte beginnt.[18]

 

 

[17] Zur Einführung siehe Leora Tannenbaum; Vanessa Paloma, Orthodox Women's Private Prayers, in Jules Harlow u.a., Pray Tell. A Hadassah Guide to Jewish Prayer, Woodstock.Vermont 2003, 249-278, zu den Ladino-Gebeten: S. 259-266. Ferner: Moshe Lazar, Siddur Tefillot: A Women's Ladino Prayer Book (The Sephardic Classical Library 10), Lancaster.CA 1995.

[18] Siehe dazu ausführlicher: Chava Weissler, Voices of the Matriarchs. Listening to the Prayers of Early Modern Jewish Women, Boston.MA 1998.

 

   

Techines (16. - 20. Jh.)

Neue jüdische Strömungen wie die Kabbala seit dem 16. Jh. und der Chassidismus seit dem 18. Jh. – die zwar beide ausschließlich Männern vorbehalten waren – lehren, das Gebet dürfe gerade nicht nur als reiner Formalismus betrachtet werden. Es sei wichtig, auch die Bedeutung einer Mitzwa zu kennen. So entstanden Meditationen vor und nach der Ausübung von Mitzwot, auch solcher für Frauen: die in jiddisch verfassten Techines.[19] Als liturgischer Fachbegriff bezeichnet das hebräische Wort techina ("Flehen um Gunst")[20] das private, nicht festgelegte Gebet im Unterschied zur tefilla ("Bitte um Recht")[21], dem das Opfer ersetzende Pflichtgebet. Die meisten Techines wurden von Männern für Frauen verfasst, doch es gibt auch Autorinnen, wie Sara bas Towim (17. Jh.) und Leah Horowitz (18. Jh.), beides Töchter von Rabbinern. Die Techines enthielten Übersetzungen und Erklärungen synagogaler Gebete, die während des Gottesdienstes in der Frauenabteilung gelesen werden konnten, aber auch viele neue Gebete, welche die drei Mitzwot der Frauen begleiteten: Gebete vor der Absonderung der Challa, vor und nach dem Eintauchen in die Mikwe und vor und nach dem Entzünden der Schabbatkerzen.

[19] Siehe dazu ausführlicher Weissler (Anm.18); Trepp, (Anm. 11), S. 299-308.

[20] Das Wort Techina kommt von der Wortwurzel ch-n-n. Sie bedeutet, chen d.h. "Gunst, einen günstigen Blick" erbitten, vor allem in spontanen Notsituationen. 1. Kön 8,28-53 listet verschiedene Notsituationen auf, die Tehmen von Techinot werden konnten. Das Wort wird in der Bibel häufig parallel zu Tefilla gebraucht, in der jüdischen Tradition deutete man es als privates Gebet außerhalb des Pflichtgebets.

[21] Das Wort Tefilla kommt von der Wortwurzel p-l-l, die von Hause aus ein juristischer Terminus ist. Sie bedeutet "Gericht halten". Reflexiv hitpalel bedeutet also "für sich selbst um Recht bitten" (vor einem Richter). Die Themen der Tefilla (auch "Amida" = das im-Stehen-[Gesagte]") wurden von der jüdischen Tradition festgelegt.

 

   

Gebet der Schwangeren

Wenn eine Frau trägt oder zu Kind geht, sagt sie das:

 

Herr der Welt, wie dein heiliger Wille ist gewesen, daß du hast meine Gebete erhört, daß ich tragend geworden, so bitt ich dich, tu mir weiter Gnad und laß mich nit schwer tragen, denn du bist dem Mensch sein Beschützer.

Lieber Gott, hüt mich, daß ich nit etwa das Kind verliere, und der Samen soll bei mir beständig sein, bis mein Zeit wird kommen zu gewinnen.

Und gib mir Kraft in meine Glieder, und laß mich nix gelüsten, was verboten ist.

Lieber Vater, wenn die Zeit wird kommen, da ich werd sein gewinnend, so laß mich nit lang auf dem Gebärstuhl sitzen, und laß mich mein Kind haben ohne Wehen, nit wie es pflegt sein bei einem Erstling. Und laß mein Kind von mir gehen ohne Schaden.

Barmherziger Vater, ich bitt dich, daß du sollst mir in derselbigen Zeit meine Sünd nit gedenken und sollst mit mir haben großes Erbarmen.

Und in der Zeit, wenn ich werd söllen mein Kind haben, soll mir nix geschehen an meinem Leib und an meines Kindes Leib.

Amen

 

Frankfurt an der Oder 1804[22]

[22] Zitiert aus: Levinson, Esther (Anm. 3), S. 138.
   

Frauengebetbücher (19. und 20. Jh.)

In Deutschland entwickelte sich ab 1816 die Gattung der deutschsprachigen Frauengebetbücher.[23] Neben Übersetzungen der Synagogengebete, Friedhofsgebeten und Gebeten zu den Mitzwot von Frauen entstand eine Fülle von Texten für die neuen Lebenssituationen der bürgerlichen Frau im 19. Jh.: die jüdische Konfirmation eines Mädchens, Verlobung und Hochzeit (die Liebesheirat kommt in dieser Zeit auf), Schwangerschaft, Geburt, Erziehung von Kindern (bisher die Aufgabe der Väter), Bitten für den Ehemann in seiner beruflichen Tätigkeit, Gebete für Kranke und Sterbende, für den Kuraufenthalt, und anderes. Die Frauengebetbücher halfen den Frauen, ihre neuen gesellschaftlichen Rollen in der neu strukturierten bürgerlichen Kleinfamilie zu erfüllen. Ein verbreitetes Frauengebetbuch trägt den Titel "Hanna" und hat, wie viele andere, einen männlichen Herausgeber: Jacob Freund, Breslau 1867. Es konkurriert jedoch mit den "Stunden der Andacht", dem ersten jüdischen Gebetbuch verfasst von einer Frau: Fanny Neuda, Prag 1855 (26. Aufl. bearbeitet von Martha Wertheimer, Frankfurt 1936).

[23] Siehe dazu ausführlicher: Bettina Kratz-Ritter, Für "fromme Zionstöchter" und "gebildete Frauenzimmer". Andachtsliteratur für deutsch-jüdische Frauen im 19. und frühen 20. Jh. (Haskala 13), Hildesheim u.a. 1995.
   

Beim Eingang des Sabbat nach dem Lichtzünden

"Allmächtiger! mit freudigen Gefühlen zünde ich, nach deinem Willen und Geheiß, die Lichter, zum Schmuck und zur Verherrlichung der sabbatlichen Stunden, die du geweiht und geheiligt. Wie süß, wie köstlich sind diese Stunden, die deine Gnade uns gegeben hat! Wie wohl thut unserm Herzen die sabbatlichen Ruhe und Stille, wo der Körper sich erholt von den Mühen und Anstrengungen der Woche …"

         Fanny Neuda (1874)[24]

[24] Fanny Neuda, Stunden der Andacht. Ein Gebet- und Erbauungsbuch für Israels Frauen und Jungfrauen zur öffentlichen und häuslichen Andacht so wie für alle Verhältnisse des weiblichen Lebens, 9. Aufl. Prag 1874, S. 17.
   

Die Frauengebetbücher weckten neue Kreativität. 1936 erschienen "Gebete", verfasst von Bertha Pappenheim[25], die in vielem neuartig sind: sie begleiten nicht Mitzwot oder Lebenzyklen, sondern formulieren persönliche Gefühle in neuen poetischen Formulierungen. Fast nie wird Gott als Mann angesprochen, häufiger heißt er "Kraft", "Zeit", "Geist des Alls", "Schechina", oder bleibt namenlos verbogen hinter der Anrede "du".

[25] Elisa Klapheck; Lara Dämmig, Bertha Pappenheim. Gebete, Berlin 2003.
   

Gebet

 

Vielmal schwer getroffen und ver-

letzt von Menschen – was liegt daran!

Laß mich aufraffen den einen Weg

zu gehen – den Königsweg.

 

Und nicht gehört und nicht verstanden –

was liegt daran! Laß mich weiter

reden und sagen, was wahr ist.

 

Und wenn es kalt ist, und wenn es finster

ist, und wenn die Luft übel zu atmen, –

und ich erkenne den Sinn und will ihn

verkünden, und die Menschen sind blöde

– was liegt daran!

 

Ich kann den Sinn auch künden

ohne Laut und Wort – durch das Tun.

         Daß ich stark sei dazu immer

         noch und wieder

Amen.

 

         Bertha Pappenheim

         16. Dezember 1933[26]

[26] Ebd., S. 48.
   

In Deutschland vernichtete die Schoah diese Entwicklungen vollständig. Erst seit Mitte der 90er Jahre wird langsam und oft nur unter Kämpfen daran angeknüpft. Vor allem in Großbritannien und Nordamerika aber wurde das Erbe der Frauengebetbücher aufgegriffen und weitergeführt.

 
   

Gott, denke nicht nur an die Männer und Frauen guten Willens, sondern auch an die mit bösem Willen. Doch erinnere dich nicht an die Leiden, die sie uns zugefügt haben. Erinnere dich an die Früchte, die wir durch dieses Leiden gebracht haben, unsere Kameradschaft, unsere Loyalität, unsere Demut, unseren Mut, unsere Großzügigkeit, die Größe des Herzens, die daraus gewachsen ist. Und wenn sie zum Gericht kommen, lass alle Früchte, die wir hervorgebracht haben, ihre Vergebung sein.

         Gebet einer unbekannten Frau

         gefunden auf einem Stück Einwickelpapier

         im Konzentrationslager Ravensbrück[27]

[27] Zitiert aus Seder ha-Tefillot. Das jüdische Gebetbuch. Hg. von Jonathan Magonet in Zusammenarbeit mit Walter Homolka, übers. von Annette Böckler, Band II, Gütersloh 1997, S. 531.
   

Rosch Chodesch Gruppen und neue Rituale für Frauen (seit 1971)

1971 traf sich in New York die erste Rosch-Chodesch-Gruppe.[28] Traditionell dürfen Frauen an Rosch Chodesch (Neumond) keine Arbeit tun und sollen sich festlich kleiden, als Lohn dafür, dass Frauen sich damals geweigert hatten, bei der Herstellung des Goldenes Kalbes mitzumachen, wie der Midrasch lehrt.[29]  Frauen aller religiösen Strömungen belebten Rosch Chodesch als Festtag exklusiv für Frauen. Sie treffen sich am Neumondstag selbst oder am Schabbat oder Sonntag vor oder nach Rosch Chodesch. Diese Gruppen haben privaten Charakter, so dass man nicht weiß, wie viele solcher Gruppen es inzwischen auch in Deutschland gibt, zumindest in Berlin gibt es mindestens eine. Einige der Rosch-Chodesch-Gruppen konzentrieren sich auf das Studium von Texten, andere beten die traditionellen Gebete, wieder andere diskutieren über moderne Frauenfragen und einige schufen neue Rituale zur Begleitung des weiblichen Lebens, wie Rituale beim Beginn einer Schwangerschaft, zur Entwöhnung, nach einer Fehlgeburt, nach Vergewaltigung, Abtreibung, Brustamputation, Scheidung, etc., zur Segnung lesbischer Beziehungen, zu Beginn und Ende der Menstruation sowie zur Begleitung des Alters (wie simchat chochma zu hohen Geburtstagen). Nachdem im 19. Jh. erstmalig Frauen in Gebetstexten zur Sprache gekommen waren, bezeugt das 20. Jh. nun religiöse Rituale für Mädchen und Frauen. Doch nicht nur dies. Immer mehr Frauen streben nun danach, ihr Gebet nicht nur in solch privaten Gruppen wie den Rosch-Chodesch-Gruppen zu verrichten, sondern auch in einer öffentlicheren Gemeinschaft.

 

 

[28] Arlene Agus, This Month Is For You: Observing Rosh Hodesh as a Women's Holiday, in: Elizabeth Koltun (Hg.), The Jewish Women: New Perspektives, New York 1976, 84-93. Ferner: Tamara Cohen, Women's Spiritual Alternatives, in: Jules Harlow u.a., Pray Tell. A Hadassah Guide to Jewish Prayer, Woodstock.Vermont 2003, 205-247, zu Rosch Chodesch Gruppen vor allem S. 240f; Pnina Navè Levinson, Eva und ihre Schwestern. Perspektiven einer jüdisch-feministischen Theologie (GTB 535), Gütersloh 1992, S. 179-182.

[29] Er gründet sich auf der Tatsache, dass im Hebräischen "das Gold in ihren Ohren" (Ex 32,3) eine mask. Form ist, obwohl auch die Frauen aufgefordert waren, ihr Gold zu geben (Ex. 32 2), der Midrasch erklärt: sie hätten sich geweigert, mitzumachen. Pirke de Rabbi Eliëser 45; Raschi zu Megilla 22b; Targum Pseudo-Jonathan zu Ex 32,3.

 

   

Orthodox Women's Prayer Groups (seit 1972)

1972[30] bildete sich in New York die erste orthodoxe Womens Prayer Group[31], nach dem Vorbild von Mirjam, die am Schilfmeer die erste Frauengebetsgruppe zusammengetrommelt hatte. Die Zahl der Frauengebetsgruppen nahm seitdem rapide zu. Inzwischen organisieren sich die Gruppen im Womens Tefillah Network. In den Frauengebetsgruppen treffen sich ausschließlich Frauen, in der Regel einmal im Monat. Frauen leiten dort das Gebet, tragen die Torarolle in der Prozession, lesen aus der Rolle, werden zur Tora aufgerufen und halten gelehrte religiöse Reden. Man beachtet aber die orthodoxen Bestimmungen, d.h. Gebete, für die ein Minjan notwendig ist, – der in orthodoxen Gemeinden als Zahl von 10 Männern definiert wird – werden weggelassen. Auch Tefillin werden nicht gelegt, wohl aber hüllen sich Frauen in den Tallit bei der Toralesung. Hier ist der Ort für orthodoxe Bat-Mitzwa-Feiern, in denen Mädchen aus der Tora lesen. Die Väter und andere Männer sitzen in diesem Fall als Gäste hinter einer Absperrung, so dass es bereits erste Beschwerden gab, weil Männer nun erstmals fühlen konnten, was es bedeutet, ausgeschlossen zu sein.[32] Die Gebetsgruppe wird deutlich als Ergänzung zum Minjan verstanden, nicht als Alternative. Sie ist ein Phänomen des modern-orthodoxen Judentums, in den nicht-orthodoxen Strömungen bildete sich stattdessen der egalitäre Minjan.

 

 

[30] Leo Trepp berichtet, seine Mutter habe vor der Schoah in einer neo-orthodoxen Synagoge in Mainz zu einem "Frauenminjan" gezählt, siehe Trepp (Anm. 11), S. 298.

[31] Siehe dazu vor allem: Weiss (Anm. 15). Siehe ferner Tannenbaum; Paloma (Anm 17), 272-274; Pnina Navè Levinson, Eva und ihre Schwestern. Perspektiven einer jüdisch-feministischen Theologie (GTB 535), Gütersloh 1992, S. 163-165; Eine Reihe von Aufsätzen findet man unter www.jofa.org/social.php/ritual/synagogue/womenstefill.

[32] Deanna Mirsky, In This Place and Time - New Traditional Bat Mitzwah, http://www.myjewishlearning.com/
lifecycle/Bar_Bat_Mitzvah/Issues/BatMitzvahin
WomensService.htm.

 

   

Egalitärer Minjan (seit Ende 60er Jahre)

Bereits seit den 60er Jahren trafen sich in verschiedenen Ländern "egalitäre Minjanim", d.h. Gemeinden, in denen sowohl Männer als auch Frauen gezählt werden.[33] Die Entwicklung begann vor der Schoah in Deutschland, wo in einzelnen liberalen Gemeinden Frauen und Männer gemischt saßen. Neu nun in einem egalitären Minjan ist die volle gleichberechtigte, aktive Beteiligung aller jüdischen Menschen, Männern wie Frauen, Mädchen wie Jungen an allen liturgischen Handlungen. In allen nichtorthodoxen jüdischen Gemeinden der Welt ist dies inzwischen die normale Form des Gottesdienstes. Auch in Deutschland entstanden seit 1995 egalitäre Minjanim, an einigen Orten als Teil der Einheitsgemeinden, an anderen, wo dies aufgrund der starken Widerstände der orthodox orientierter Gemeinden nicht möglich war, gründeten sich neue Gemeinden. 1997 schlossen sie sich in der Union Progressiver Juden in Deutschland zusammen.[34] Die deutsche Union ist Teil der Weltunion für progressives Judentum, die das liberale Judentum weltweit vertritt.[35]

Zu den egalitären Minjanim gehören Komponistinnen, Kantorinnen und Rabbinerinnen. 1972 begann die Karriere der amerikanischen Sängerin und Liederdichterin Debbie Friedman, deren liturgische Melodien heute nicht nur liberale Gottesdienste prägen.[36] Im gleichen Jahr nahm das Reformjudentum in den USA mit der Ordination von Sally Priesand die Ordination von Rabbinerinnen wieder auf, erstmals seit der ersten Rabbinerin Regina Jonas, die 1935 in Berlin ordiniert worden war. Die erste offiziell ausgebildete Kantorin trat 1975 ihren Dienst an, nachdem bereits vorher Sängerinnen Gebete geleitet hatten. Die Stimme von Frauen ist seitdem in Gottesdiensten, aber auch in Rabbinatsgerichten, Rabbinerkonferenzen, Gebetbuchkommissionen, etc. vertreten, nicht ohne Folgen.

 

 

[33] Siehe dazu Levinson Eva (Anm. 29), S. 161-163.

[34] Siehe dazu vor allem: www.liberale-juden.de.

[35] Siehe www.wupj.org.

[36] Siehe ausführlicher unter www.debbiefriedman.com.

 

   

Neue Gebete (passim)

In der Tradition der Techines entstanden ununterbrochen in allen religiösen Strömungen des Judentums neue Gebete von Frauen.[37] Vor allem in Israel schreiben u.a. Frauen Gedichte, die z.T. traditionelle Motive verwenden oder sich mit der religiösen Tradition oft durchaus kritisch auseinandersetzen. Einige dieser Gedichte, wie die von Hannah Senesh oder Zelda fanden Eingang in die aktuellen Gebetbücher der nichtorthodoxen Strömungen.

 

 

[37] Eine Sammlung verschiedener Texte bietet: Levinson, Esther (Anm. 3).
   

 

Mein Gott, mein Gott,

niemals mögen ein Ende finden

der Sand und das Meer,

das Rauschen des Wassers,

die Blitze am Himmel,

das Beten der Menschen.

         Hannah Senesh (geb. 1921, ermordet 1944)

         (Aus dem Hebräischen von Annette Böckler)[38]

 

 

38] Seder ha-Tefillot. Das jüdische Gebetbuch, hg. von Jonathan Magonet in Zusammenarbeit mit Walter Homolka, übers. von Annette Böckler, Band I, Gütersloh 1997, S. 233.
   

1996 erschien "The Book of Blessings" von Marcia Falk.[39] Es präsentiert sich als Gebetbuch für Schabbat- und Wochentage sowie für Rosch Chodesch. Alle maskulinen Formen und Bilder in den hebräischen Texten formulierte sie konsequent um, sogar Texte wie das Schma. Aus dem Schabbatlied lecha dodi likrat kalla ("Auf mein Freund, der Braut entgegen ...") wurde lechu re'ot likrat kalla pne schabbat neqabela, lechu re'im likrat kalla pne schabbat neqabela  ("Auf Freundinnen, der Braut entgegen, lasst uns den Schabbat empfangen. Auf Freunde, der Braut entgegen, lasst uns den Schabbat empfangen."), denn der traditionelle Text setzt sprachlich voraus, dass nur männliche Beter in der Gemeinde anwesend sind, die sich einander auffordern ("Auf mein Freund"), sich auf den Schabbat einzustellen.[40] Ihre Neuformulierungen sind innerhalb des liberalen Judentums umstritten, sie regten aber  zu fruchtbaren Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen inklusiver Sprache an.

 

 

[39] Marcia Falk, The Book of Blessings. New Jewish Prayers for Daily Life, the Sabbath, and the New Moon Festival, Boston.MA 1996.

[40] S. 101. Der Schabbat wird hier als Israels Braut verstanden, Israel ist ein maskuliner Personenname, = Jakob. Es gab bisher noch keine Ideen für feminine, gleich theologisch geprägte Bezeichnungen.

   

Offizielle Gebetbücher des liberalen und konservativen Judentums (seit 1995)

Vor genau 10 Jahren erschien das amerikanische Gebetbuch Gates of Prayer. A Gender Sensitive Prayerbook, hg. von Chaim Stern. Der Untertitel benennt die Neuerung: es benutzt durchgehend nicht-exklusive Sprache. Im gleichen Jahr führen die liberalen Synagogen in Großbritannien Siddur Lew Chadasch hg. von John D. Rayner und Chaim Stern ein, die konservativeren Reform Synagogues of Great Britain publizierten Forms of Prayer vol. III: Pilgrimage Festivals, beide Bücher verwenden mit Selbstverständlichkeit geschlechtsneutrale Sprache. Auch das Gebetbuch der konservativen Bewegung in den USA, Sim Shalom, erschien 1998 in einer revidierten Version, die Frauen berücksichtigt. Sämtliche seit 1995 publizierten liberalen Gebetbücher in Deutschland (1997), der Schweiz (1998 dt.; 2000 frz.), den Niederlanden (1996), Frankreich (1997), neben etlichen anderen liberalen und konservativen in den USA (div. Editionen) und Israel (1991 lib.; 1998 masorti) folgen mit Selbstverständlichkeit folgenden Grundsätzen: der Gottesname wird nicht einseitig maskulin übersetzt. Die für Gott verwendeten Bilder sind nicht einseitig maskulin. Die hebräischen Formen in der 1. Sg. sind maskulin und feminin. Exklusive Gebete wie "dass du mich nicht als Frau gemacht hast" gibt es nicht mehr. Neben den Erzvätern werden durchgehend auch die Erzmütter erwähnt. Die Gebetstexte wurden sowohl von Männern wie von Frauen verfasst, die Tradition der Frauengebete wird rezipiert. Zum Teil werden spezifische Erfahrungen und Lebenssituationen von Frauen berücksichtigt.

 

 

 
   

 

Mirjam, die Prophetin,

Stärke und Lied in ihrer Hand,

Mirjam soll mit uns tanzen,

damit das Lied der Welt lauter erklingt.

Mirjam soll mit uns tanzen,

damit die Welt verbessert wird.

Schnell und in unserer Zeit

möge sie uns bringen

zu den Wassern des Heils.

         Rabbinerin Leila Gal Berner[41]

         aus der Hawdala Zeremonie in Siddur Kol Haneshamah (1998)

         Das Hebräische wird auf die Melodie "Elijahu haNawi" gesungen.

         (Aus dem Hebräischen: Annette Böckler)

 

 

[41] Kol Haneshamah. Songs, Blessings and Rituals for the Home, Wyncote, Pennsylvania 1998, S. 63. (= Gebetbuch der Reconstructionist's Bewegung in USA)
   

Orthodoxe Frauen lesen aus der Tora (seit 2001)

2001 stand in einer orthodoxen Synagoge in New York zum ersten Mal eine Frau auf einer Bima, die architektonisch genau zwischen Frauen- und Männerbereich stand und las für beide, Männer und Frauen aus der Tora.[42] Inzwischen hört man aus den USA zunehmend von Frauen, die im Wechsel mit Männern für Männer und Frauen aus der Tora lesen und von Simchat Tora Gottesdiensten, in denen auch die Frauen in ihren Frauenabteilungen mit der Tora tanzen. Möglicherweise beginnt hier eine neue Entwicklung im orthodoxen Judentum.

 

 

[42] Tannenbaum; Paloma (Anm. 17), S. 274.
   

Ausblick

Das 21. Jh. wird das Jahrhundert der Frauen sein. Ihre Errungenschaften der letzten 30 Jahren sind aus dem jüdischen Leben nicht mehr zu tilgen. Es bleibt zu hoffen, dass auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland, die bisher in ihrer Mehrzahl orthodox geführt werden, künftig die aktive Beteiligung von Frauen am Gemeindegebet ermöglichen. Die religionsgesetzliche Beweislast für die Praxis des öffentlichen Gebetes, der Toralesung und des Tragens von Gebetsschal und Gebetsriemen liegt heutzutage nicht mehr bei den Frauen, die lange danach forschten, was die jüdische Tradition ihnen erlaubt und was nicht, sondern inzwischen bei den Männern, die begründen müssen, warum dieses oder jenes im 21. Jh. verboten sein soll. Das Gebet, genauer: das öffentliche Beten von Frauen in gemischt-geschlechtlichen Zusammenkünften wird in der Diskussion um die Gleichberechtigung von Frauen im Judentum die Kernfrage sein.

 

 

 
   

 

Schabbat.

 

Manchmal bin ich noch nicht bereit

dich zu empfangen,

doch du bist schon da …

 

Manchmal eilt die Welt, die Zeit,

schneller als ich.

und du bist schon vorüber

ehe ich es bemerke.

 

Manchmal steht jeder davor,

ich kann dich nicht sehen.

Warst du wohl da?

 

Manchmal gelingt es uns,

gleichzeitig zu kommen

du bist bereit und ich bin gestresst.

 

Manchmal ist dann plötzlich

tiefer Friede, überwältigende Ruhe

bei Kerzenlicht

ich flüstere atemlos: wilkommen

 

Gut Schabbes!

 

Sarah

         16. July 1999, 3 Aw 5759.         

         (Aus dem Niederländischen von Jaqueline Rothschild)[43]

 

 

[43] Mit Genehmigung der Autorin. In einer englischen Übersetzung wird dieser Text in das neue Gebetbuch für Schabbat und Wochentage der Reform Synagogues of Great Britain aufgenommen werden, das zur Zeit entsteht.
    © Dr. Annette M. Böckler