Annette Böcklers Homepage
Erschienen in: Habakuk. Trotz Gott an Gott glauben. Predigten.
Hg. von A. Haarbeck und J.A. Dittert, Wuppertal 2000,
(foedus Verlag, ISBN 3-932735-40-4)
S. 17-22.



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Ich schreie zu dir über Gewalt!

1 Dies ist die Last, die der Prophet Habakuk geschaut hat.
2 HERR, wie lange soll ich schreien, und du willst nicht hören? Wie lange soll ich rufen: "Frevel!", und du willst nicht helfen?
3 Warum läßt du mich Bosheit sehen und sieht dem Jammer zu? Raub und Frevel sind vor mir; es geht Gewalt vor Recht.
4 Darum ist das Gesetz ohnmächtig, und die rechte Sache kann nie gewinnen; denn der Gottlose übervorteilt den Gerechten; darum ergehen verkehrte Urteile.


I Einleitende Bemerkungen

Die kleine prophetische Schrift Chabakuk durchzieht ein Thema: Glaube an Gott angesichts von erlebter Gewalt. Die ersten vier Verse bilden eine Art Überschrift über die folgenden Prophetien. Chabakuk erlebt Gewalt, Elend, Hader, Zank und Raub. Das Gesetz ist ohnmächtig und Gerechtigkeit gibt es nicht mehr (1,3-4). Die ersten Verse benennen keinen Täter der Gewalt. Erst in den folgenden Versen beschreibt Chabakuk die Brutalität der "Kasdim", die sein Volk erobern werden (1,6ff). Nach der klassischen Theologie früherer Propheten war eine Eroberung eine Strafe für Israels Sünden, die Eroberer also Gottes Werkzeuge. Chabakuk aber kann dies nicht hinnehmen. Die Brutalität der Eroberer und der heilige Gott reinen Blicks (1,12-13) können nicht koalieren. Chabakuk rebelliert gegen diese Vorstellung.

Chabakuks Thema ist heute so aktuell wie damals. Auch heute rollen die Eroberungszüge der Gewalt über Menschen. Im Fernsehen und Kino bleibt die Gewalt im sicheren Zaum der Unerhaltsamkeit, wenn sie aber Menschen konkret angreift, dann fliegt sie herbei wie ein Adler, der zum Fraße stürmt (1,8), braust sie über die Menschen wie ein Sturm (1,11), erbittert und ungestüm (1,6). Sie hinterlässt manchmal körperlich, immer psychisch verletzte Opfer. Chabakuks "Kasdim" könnten heute eine Chiffre sein für alle Täter

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der Gewalt, der viele Menschen ausgesetzt sind – innerhalb ihrer Familien, auf der Straße, in den Schulklassen oder wo auch immer.

Gewalt zum Thema einer Predigt zu machen, ist jedoch schwierig. Wird es gelingen, sensibel und einfühlsam genug zu formulieren? Dazu ist es wichtig, sich eindeutig auf Chabakuks Seite zu stellen, nicht allgemein über Gewalt zu reden, nicht Gott zu verteidigen, sondern mit Chabakuk zu klagen. Die folgende Predigt versucht, Gewalterfahrung zur Sprache zu bringen. Vielleicht kann sie damit jemandem, der Chabakuks Empfinden teilt, den Weg eröffnen, ebenfalls zu sprechen und die Kraft und den Mut geben, ebenfalls zu rebellieren.



II Predigt über Hab 1,1-4

Warum, Gott?
Gott, ich habe gefleht, doch du hörst nicht!
Ich schreie zu dir über Gewalt, und du hilfst nicht!

So beginnt ein kleines Buch der Bibel, das Buch des Propheten Chabakuk. Die ersten vier Verse lauten wörtlich:

"Die Prophezeiung, welche geschaut Chabakuk, der Prophet.
Wie lange, o Ewiger, habe ich gefleht,
und du hörst nicht.
Ich schreie zu dir über Gewalt
und du hilfst nicht!
Warum lässt du mich Unheil schauen
und siehst Elend an und Raub und Gewalt vor meinen Augen,
und Hader entsteht und Zank erhebt sich.
Darum ist ohnmächtig das Gesetz,
und nicht siegreich geht das Recht hervor.
Denn der Frevler umringt den Gerechten,
darum geht das Recht gekrümmt hervor."


Gewalt,
Unheil,
Elend,
Raub,
Hader,

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Zank,
Unrecht und
Rechtsbruch …

Diese Worte prägen die ersten Verse des Buches Chabakuk und das Leben vieler von uns. Gewalt unterhält uns täglich in spannenden Filmen, in Talkshows, in den Nachrichten. Doch das Geheimnis unserer Gewalt, jener Gewalt, die nicht im Studio gespielt oder diskutiert wird, das Geheimnis der Gewalt in unseren Wohn- oder Schlafzimmern, jener einen Begegnung auf der Straße, im Zug oder in der Schule, das Geheimnis unserer eigenen Erfahrung mit der Gewalt kommt kaum je zur Sprache. Wir schämen uns. Vielleicht fühlen wir uns schuldig, verantwortlich. Wir wurden gezwungen, es nicht zu sagen, oder halten es für besser, zu schweigen oder schämen uns, zu reden. Wer Gewalt erlebt hat, hat sie verarbeitet oder verdrängt oder sein Leben so eingerichtet, dass man mit ihr leben kann. Wer verletzt wurde, weiß sich zu schützen, und je schlimmer die Wunden, um so solider der Schutz. Es kann schwer und schmerzhaft sein, zu sprechen.

Chabakuk macht Gewalterfahrung zum Thema und zeigt damit einen Weg, angesichts von Gewalt zu leben. Es ist nur ein möglicher Weg, denn es gibt Erfahrungen, nach denen kann man nicht mehr alleine weiter gehen, ohne therapeutische Hilfe. Das wichtigste, was Chabakuk tut ist: Er schweigt nicht. Damit hilft er sich und vielen anderen, die sich in ihm wiederfinden.

Angesichts der Gewalt stellt Chabakuk typische Fragen: "Warum?" und: "Wie lange?" (V. 2-3) Und er macht typische Feststellungen: "Das Gesetz ist machtlos, es gibt keine Gerechtigkeit!" (V. 4).

Erstaunlich ist, dass er diese Fragen an Gott richtet, noch an Gott richten kann: "Wie lange noch, Gott? Gott, ich habe gefleht, aber du hörst nicht! Ich schreie zu dir über Gewalt, aber du hilfst nicht!" (V. 1)

Sein Klagen schafft eine Beziehung zwischen ihm und Gott. Wer bei jemandem klagt, dessen Leidenschaft brennt für den anderen, der will die Beziehung und findet sie nicht mehr. Erst mit dem Schweigen würde die Beziehungslosigkeit beginnen. Angesicht von Gewalt, die in der Regel alle Beziehungsfähigkeit zerstört, findet Chabakuk aus irgendeinem Grund noch den Weg zu Gott und dadurch beginnt er zu fragen.

Sein Leben hat zwei sich widersprechende Aspekte: die Gewalt, die er sieht, und Gott, den er glaubt. Chabakuk bringt dies nicht zusammen. Er kann nicht akzeptieren, dass Gott irgendetwas mit der Gewalt, die er erlebt, zu tun

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haben könnte – selbst wenn alle Propheten vor ihm dies gelehrt haben sollten. Chabakuk rebelliert. Seine Schrift bringt dadurch nicht nur das Geheimnis der Gewalt zur Sprache, sondern offenbart dank Chabakuks Rebellion das Geheimnis des Lebens: "Ich schreie zu dir über Gewalt!" (Chab 1,2).

Erlebte Gewalt raubt jedes Selbstwertgefühl. Wer kein Selbstwertgefühl hat, woher sollte der die Kraft zum Leben nehmen? Die Gewalt wird sein Leben gestalten. Er wird re-agieren, wird depressiv oder agressiv leben. Er bleibt das Opfer der erlebten Gewalt. Chabakuk aber rebelliert gegen das Opfer-Sein. Das Geheimnis von Chabakuks Kraft bilden vier kleine Wörtchen im ersten Satz seiner Prophetien: "Ich schreie!" und "zu dir".

Chabakuk verlässt die passive Opferrolle. Er gibt sich mit dem Erleiden der Situation nicht zufrieden. Er klagt. Er sinnt weder depressiv über sein Geschick, noch schlägt er auf die Feinde ein, sondern er bringt seine ganze Verzweiflung im Dialog zur Sprache. Er zweifelt an Gott, an Recht und Gerechtigkeit, am Sinn eines gerechten Lebens. Durch sein Klagen tritt er aus dem Erleiden heraus, tut den ersten Schritt aus der Passivität. Er kann seine Situation nicht als Fügung Gottes hinnehmen, nicht als Strafe für Sünde, wie die Propheten früher Gewalt erklärten. Diese Gewalt, die er erlebt, sie kann kein Werkzeug Gottes sein, sie kann keinen Sinn haben. Er gibt sich mit seiner Situation nicht ab. Er protestiert. Sogar gegen Gott. Dadurch verändert er sich und es verändert sich sein Glaube und dies ist seine Kraft.

Die jüdische Tradition(2) hat Chabakuk zum Sohn der Frau aus Schunem erklärt, die Elischa Gastreundschaft gewährt hatte und der ihr dafür als Dank verhieß, sie werde einen Sohn "umarmen" – chobeket ben. Dieser "Chabakuk" starb einige Jahre später und wurde von Elischas Knecht vergeblich, von Elischa selbst mühsam – nach mehreren Versuchen – wieder zum Leben erweckt (2. Kön 4,1-37). Ein Leben nach erfahrener Gewalt ist tatsächlich wie ein langsames Auferwecktwerden vom Tod, insofern passt dieses Bild zu unserem Chabakuk.

Der klagende Chabakuk schaut nicht nur auf die Gewalttäter und den Tod, den sie schaffen, sondern gleichzeitig auf den Schöpfer des Lebens: "Ich schreie zu dir, - zu dir, Gott - über Gewalt".

Wir sehen oft nur, was vor Augen liegt, sind blind für unsichtbare Möglichkeiten. Wir denken, planen und handeln nach unserem Ermessen, mit un-

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seren Kräften, mit unseren Perspektiven. Wir sehen und überlegen: Was ist uns möglich, was ist unmöglich. Vielleicht stellt die ein oder andere dann fest: Nichts. Man erinnert sich vielleicht an Versuche, wo man angefangen hatte, für etwas zu kämpfen, dann aber scheiterte. Warum also noch einmal Energien verschwenden. Wir haben eh keine Chance…

– …mit unseren Möglichkeiten! –

Es ist zweifellos leichter, nur auf die vor Augen liegenden Gegebenheiten zu reagieren und in der Opferrolle zu bleiben. Viel schwerer ist es, sich zu befreien und Veränderungen auszuprobieren. Denn eines ist sicher: erfahrene Gewalt hinterlässt nicht nur Ohnmacht, sie hinterlässt auch Wut und damit ungeheure Energien. Der Sturm der erfahrenen Gewalt hinterlässt nicht nur "Opfer", sondern Menschen mit einem Orkan von Gefühlen, mit gewalt–igen Energien, mit enormer Leistungsfähigkeit. All dies kann sowohl Fessel sein, als auch ein Springbrunnen der Energie, wenn die Kraft gewonnen wird, die Fessel zu sprengen.

"Ich schreie zu dir, Gott, über Gewalt! Zur dir Gott, der du Gebunde frei machst. – Warum? Wie lange? Ich schreie zu dir Gott, der du den Müden Kraft gibst. Warum ist das Gesetz ohnmächtig? Warum wird der Gerechte von Frevlern umringt? Ich schreie zu dir Gott, der du Erniedrigte aufrichtest. Warum dieses Unrecht, diese Ungerechtigkeit? Ich schrei zu dir über Gewalt und du hilfst nicht!"

In der griechischen Überlieferung der Bibel, der Septuaginta, wird erzählt(3), als Daniel in der Löwengrube saß, habe Gott Chabakuk beim Essen gesehen, ihn bei den Haaren gepackt und zu Daniel in die Löwengrube gesetzt, damit er ihm zu Essen gebe. Chabakuk, der gegen Gott und gegen die Gewalt protestierte, er ist der geeigenete Mann, um gewaltsam in eine Löwengrube versetzt zu werden, um dort einem Gerechten Nahrung zu bringen.

Das Geheimnis von Chabakuks Lebens angsichts von Gewalt wird am Ende seines Buches deutlicher, wie ein Lebensmotto formuliert: "Gott der Herr ist meine Kraft" (Hab 3,19). Sein Bleiben an Gott – dieses klagende, trotzige, rebellierende, suchende Bleiben – ist es, das Chabakuk herauszieht. Er sieht nicht nur seine Situation, sondern rechnet mit einer gewaltigeren Kraft von irgendwoher, einer Kraft, die er "Gott" nennt. Er schaut über und

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hinter die Situation, vergisst nie, wie kostbar das Leben der Menschen ist, wie gewollt und wie sinnvoll. Denn so sicher wie die Gewalt, so gewiss ist für den, der an Gott glaubt: Gott hat dich nach seinem Bild geschaffen, wenig niedriger als sich selbst. Du bist heilig, wie Gott heilig ist.

Deshalb hat Chabakuk die Kraft, auszubrechen aus Depression und Agression und frei zu entscheiden, nach welchen Maßstäben er sein Leben selbst gestalten will. Gott der Herr ist seine Kraft. Daher kann er seine Wut in Leben verwandeln.

Chabakuk ist ein Beispiel – inwiefern er Vorbild sein kann, wird bei jedem Menschen anders sein, je nachdem, wieviel Kraft da ist, das Schweigen zu brechen, zu schreien, "zur dir" zu schreien.

Das Buch Chabakuk gibt keine Antworten auf Chabakuks Fragen und darin ist es ehrlich. Sie bleiben offen. Chabakuk schreit zu Gott über Gewalt, fragt "warum" und "wie lange", stellt Gott in Frage, den er mit der Gewalt nicht in Einklang bringen kann. Die einzige Antwort, die er erhalten wird, ist: er muss "Gott" anders verstehen als bisher. Eines aber ist sicher und unveränderlich: Gott, auf den alles Leben zurückgeführt wird, ist die Botschaft an den Menschen: Du brauchst dich nicht aufzugeben, du darfst die Hoffnung nicht verlieren, es gibt Möglichkeiten, dein Selbstvertrauen wiederzugewissen. Chabakuks Geheimnis ist: "Gott, der Herr, ist meine Kraft."

Das spätere Judentum nach Chabakuk hat diesen Glauben in einem Gebet formuliert, das täglich an dieses Motto erinnert und trotzig gegen alle Gewalt steht: Gott, "du bist die nie erschöpfende Kraft, du schenkst Leben angesichts des Todes. Vielfältig sind deine Wege zu helfen. Die Lebenden ernährst du in Güte. In großem Erbarmen schafft du Leben angesichts des Todes. Du stützt die Fallenden. Du heilst die Kranken. Du machst die Gebundenen los und hältst die Treue denen, die im Staube schlafen. Wer ist wie du, der solche Kraft hätte, und wer ist dir gleich? Du, Gott, hast Macht über Tod und Leben, und du lässt Hilfe sprossen. du bist Treu, Leben angesichts des Todes zu schaffen. Gepriesen seist du, Ewiger. Du schenkst Leben angesichts des Todes. Amen."(4)

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(2) Sohar Beschalach 1,7; 2,44.
(3) Bel et Draco 33-39; in katholischen Bibelausgaben Daniel 14,33-39; in den "Apokryphen" protesantischer Bibelausgaben: Zusätze zu Daniel C, 33-39.
(4) Zitiert nach: Seder ha-Tefillot. Das jüdische Gebetbuch. Hg. von J. Magonet und W. Homolka. Übersetzung: A. Böckler, Band I Gebete für Schabbat, Wochentage und Pilgerfeste, Gütersloh 1997, S. 175.