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A. Böckler, Jizchaks Überleben. Bibelarbeit zu Gen 22,
in: Jörg Barthel; Holger Eschmann; Christoph Voigt, Das Leiden und die Gottesliebe. Beiträge zur Frage der Theodizee (Reutlinger Theologische Studien 1), Göttingen: Edition Ruprecht 2006, 18-34.

 

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Jizchaks Überleben

 

 

Bibelarbeit zu Genesis 22

 

Annette M. Böckler

 

Die dunklen Seiten Gottes können uns eine solche Finsternis erblicken lassen, dass wir Gott nicht mehr erkennen – und uns selbst auch nicht. Liebgewonnene Vorstellungen von Gott verdunkeln sich und verschwinden. Ein Schatten fällt auf die scheinbar noblen Handlungen von Menschen. Die Geschichte in Gen 22 über die Bindung Jizchaks und ihre Rezeption im Judentum zeigt diese finstere Unklarheit Gottes und der Menschen.

 

"Wir wandeln in der Welt der Abschlachtungen,

stolpern, fallen über Trümmer,

von Todesangst umgeben,

von Augen, die uns schweigend anstarren,

Augen anderer ermordeter Juden,

gejagter, gehetzter, verfolgter Seelen,

die nie eine Wahl hatten,

in eine Ecke zusammengepfercht,

eng aneinander gedrückt, schweigend und zitternd,

denn hier fand sie das geschärfte Messer,

sie kamen, um einen weiteren Blick zu werfen

auf den nackten Terror ihres brutalen Todes.

Diese starrenden Augen stellen alle dieselbe Frage:

Warum?"[1]

 

"Wir sind die Nachkommen Jizchaks, der auf dem Altar gebunden wurde." So lehrt das jüdische Morgengebet, welches Juden bereits zur Zeit der Kreuzzüge, der Vertreibungen und Pogrome lasen. Jizchak wurde zur Identifikationsfigur: Wir sind die Nachkommen eines Menschen, der gebunden, auf einem Altarherd liegend, aus religiösen Gründen das Messer über sich erhoben sah, in der Hand seines Vaters.

 

"Herr aller Welten, nicht wegen unserer Verdienste legen wir dir unsere Bitten vor, sondern wegen Deines großen Erbarmens. Was sind wir? Was ist unser Leben? Was ist unser Liebe? Was ist unsere Gerechtigkeit? Was ist unser Hilfe? Was ist unsere Kraft? Was ist unsere Stärke? Was sollten wir vor Dir sagen, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Vorfahren? … Der Mensch hat keinen Vorzug vor dem Tier, denn alles ist nichtig. Wir aber sind dein Volk, Kinder deines Bundes, Kinder Awrahams, der Dich liebte, dem Du auf dem Berg Morija ein Versprechen geschworen hast[2], wir sind Nachkommen Jizchaks, seines Einzigen, der auf dem Altar gebunden wurde. … "[3]

 

Dieser alte Text basiert auf Zitaten aus Bibel, Talmud und Midrasch[4] und wird seit dem Mittelalter sowohl im sefardischen als auch im aschkenasischen Ritus des Judentums zur Vorbereitung auf das tägliche Morgengebet gelesen. In sefardischen Gebetbüchern ist sogar die ganze Geschichte Gen 22,1-19 zu Beginn des Morgengebets abgedruckt. So wundert es nicht, dass auch einige Juden der Gegenwart sich mit Jizchak identifizierten und die Annullierung ihrer Menschlichkeit während des Nationalsozialismus auf der Grundlage von Gen 22 als Überlebende eines Ganzopfers (lateinisch: Holocaust) verstanden. Élie Wiesel (geb. 1928), der nach einer traditionellen jüdischen Kindheit als Teenager Auschwitz und Buchenwald überlebte, meinte:

 

"Die Akedah ist das wohl geheimnisvollste, herzzerbrechenste und zugleich eines der wunderbarsten Kapitel unserer Geschichte. Die ganze jüdische Geschichte kann tatsächlich mit Hilfe dieses Kapitels verstanden werden. Ich nenne Isaak den ersten Überlebenden des Holocaust, weil er die erste Tragödie überlebte. Isaak war auf den Weg, ein korban olah [Brandopfer] zu sein, was wirklich ein Holocaust ist. Das Wort 'Holocaust' hat eine religiöse Konnotation. Isaak war bestimmt als Opfer für Gott."[5]

 

Wie aber können Opfertiere beten? Zu welchen Gott kann man nach dem Holocaust Vertrauen haben? Kann man sich auf Gott verlassen, angesichts der Tatsache, dass man sich nicht auf ihn verlassen konnte? Welchen Trost spendet die Religion, wenn Gott kein Fels und Schutzschild ist – nicht einmal für das Volk, durch das er sich bekannt machen wollte? Scheinbar bestimmen eben doch Menschen, wie es anderen Menschen ergeht. Gott ist nicht nur unbegreiflich oder dunkel geworden, sondern unendlich fern, wenn nicht gar mit vernichtet.

 

"Weshalb muß ich zu dir reden?

Ich glaube nicht meinen Worten

oder daß du hörst.

Soll dieses Staubkorn das wirbelnde Weltall anreden?

Du bist mir wie gar nichts

wenn du nicht Ha-Rachaman [der Barmherzige] bist.

Aber du bist nicht barmherzig:

das bezeugt der blinde Wurm,

dein Volk.

Laß Schweigen zwischen uns sein;

laß die Erde ihren Mund schließen;

ich will nicht zu dir sprechen."

       Amy Blank (1975)[6]

 

 

Nach traumatischen Erfahrungen kann man nicht theologisieren. Theologische Erklärungen machen lediglich wütend, weil Schmerz und Wut nicht stehengelassen werden. Schmerz und Wut können nicht erklärt, begründet oder gedeutet werden. Geschichten wie Gen 22 aber sind behutsam, denn sie eröffnen verschiedene Identifikationsmöglichkeiten. Sie schaffen Raum, sodass der Verletzte sich verstanden fühlt und wiederfindet: in Awraham mit seinem extremen Gehorsam und seiner Treue bis zum letzten, oder in Jizchak, der ungefragt gebunden wurde oder auch in dem "anderen Widder", der tatsächlich geschlachtet wurde oder mit Jizchaks Mutter, die schweigend übergangen wird. Die jüdische Auslegungsgeschichte erweitert das Identifikationsspektrum, indem sie diese Erzählung durch andere Erzählungen erklärt. Sie berichtet von einen mit Gott diskutierenden Awraham, der gerade nicht blind gehorcht, von einem mit einem bösen Engel streitenden Jizchak, der gerade nicht passiv schweigt, von Saras Tod als Reaktion auf den Schock, und vieles mehr. Geschichten geben nichts vor, aber sie geben Raum. Sie erlauben das stockende Staunen: Wozu? Warum wird uns Leid zugefügt? Wozu musste Jizchak gebunden werden? Wo ist Gott? Und wo ist der Mensch?

 

Verschiedene Menschen werden bei dem Studium der Verse dieser Geschichte an verschiedenen Szenen hängen bleiben. Es kommt im Folgenden daher nicht darauf an, eine einzige Wahrheit in der gesamten Geschichte aufzuzeigen, sondern Fragen zu wecken und verschiedene, zum Teil sich widersprechende Facetten der Erzählung zu beleuchten um Licht in die Dunkelheiten unseres Lebens und unserer Gottesvorstellungen zu werfen.

 

[Gen 22, 1]Es war nach diesen Begebenheiten …[7]. Schon die ersten Worte der Geschichte werfen Fragen auf. Die jüdische Tradition fragt: "Nach welchen Begebenheiten?" Im vorherigen Kapitel schloss Awraham einen Bund mit dem König der Philister (Gen 21,22-32). Ein mittelalterlicher jüdischer Kommentator, Rabbi Schmuel ben Meïr, meinte daher, Awrahams Prüfung folge als Strafe für diesen Bund mit einem Heiden[8]. Damit lehrt er, eine göttliche Prüfung sei ihrem Wesen nach letztlich eine Strafe. Doch zwischen dieser Begebenheit, und der Geschichte in Gen 22 verging eine "lange Zeit" (21,34), einige meinen, zwölf Jahre.[9] Manche sagen daher, die Geschichte habe sich nach den Worten – "Begebenheiten" (hebr.: dewarim) kann auch "Worte" bedeuten – des Anklägers der Menschen "Satan" zugetragen, der Gott vorwarf: "Herr der Welt, du hast Awraham mit hundert Jahren eine Leibesfrucht geschenkt aber von seinem ganzen Festmahl hatte er weder eine Turteltaube noch eine junge Taube übrig, um sie dir zu opfern!" – Denn von einem Dankopfer Awrahams steht nichts im Text. – Gott habe Satan daraufhin erwidert: "Wenn ich zum ihm sagen würde, dass er seinen Sohn für mich schlachte, so würde er dies sofort tun."[10] Nach diesen Begebenheiten versuchte Gott Awraham. Awrahams Prüfung – und gleichzeitig jede Prüfung der Gemeinde – wäre damit ein vergleichbarer Treueerweis wie Ijows Leiden.

            Die jüdische Liturgie identifizierte die jüdische Gemeinde mit Jizchak. So wundert es nicht, dass einige Deutungen Jizchak eine aktive Rolle an dem Geschehen zuschreiben. Er wurde zum Vorbild für einen religiösen Märtyrer. Es sei, so erklären einige, nach den Worten Jischmaels gewesen, der sich über Jizchak gerühmte habe. Er sei bei seiner Beschneidung bereits 13 Jahre alt gewesen und habe sich nicht gewehrt. Sein Gehorsam übertreffe folglich den Jizchaks, der bei seiner Beschneidung ja erst acht Tage alt war, das Ganze also gar nicht mitbekommen hatte. Nach diesem Vorwurf nun habe Jizchak erwidert: "Du lästerst über mich wegen eines Körperteiles. Wenn Gott sämtliche Glieder von mir fordern würde, würde ich nicht zögern, sie ihm zu geben."[11] Nach diesen Worten versuchte Gott Awraham.

            Literarisch leiten die Worte "Nach diesen Begebenheiten" eine unerwartete Wendung mit weitreichenden Folgen in einem größeren Erzählkomplex ein.[12]

 

Es war nach diesen Begebenheiten, als Gott Awraham versuchte und zu ihm sprach: "Awraham!" Was versuchte er? Wozu? Anders gefragt: Warum musste Jizchak leiden? Für die meisten jüdischen Kommentatoren verdeutlicht Jizchaks Bindung die Leiden der Juden im Mittelalter, d.h. örtliche Diskriminierungen, im schlimmsten Fall ein lokales Pogrom oder eine Vertreibung, aber noch nicht, wie im letzten Jahrhundert, die gezielte Ausrottung des gesamten europäischen Judentums und einer Betroffenheit fast aller jüdischen Familien der Welt. Dies gilt es zu bedenken, denn die meisten der alten Antworten wirken aus heutiger Sicht zu simpel. Sie sind auf die heutige Situation nach der Schoah nicht übertragbar. Eine klassische Antwort auf die Frage nach dem Warum lautet:

 

Rabbi Jonathan sagte: "Ein Töpfer prüft keine beschädigten Gefäße, denn er kann ihnen nicht ein einziges Schläglein zufügen, ohne dass sie nicht sofort zerbrechen würden. Was aber prüft er? Nur die guten Gefäße, denn diese wird er nicht zerbrechen, selbst mit vielen Schlägen. In ähnlicher Weise prüft der Heilige, Gepriesen sei Er!, nicht die Bösen, sondern die Guten, wie es heißt: "Der Ewige prüft die Gerechten" (Ps 11,5). Rabbi Jose ben Rabbi Chanina sagte: "Wenn ein Flachsarbeiter weiß, dass ein Flachs eine gute Qualität hat, dann wird es, je mehr er es schlägt, um so glänzender; aber wenn es eine mindere Qualität hat, kann er ihm nicht einen Schlag versetzen, ohne dass es sich spaltet. Ähnlich prüft Gott nicht die Bösen, sondern nur die Guten, wie es heißt; "Der Ewige prüft die Gerechten". Rabbi Elasar sagt: "Wenn ein Mann zwei Kühe besitzt, die eine stark, die andere schwach, auf welche wird er das Joch setzten? Natürlich auf die starke. Ähnlich prüft Gott nur die Guten, wie es heißt: "Der Ewige prüft die Gerechten."[13]

 

Für den der geprüft wird, mag es tröstlich sein zu wissen: mein Leiden beweist, dass ich zu denen gehöre, die Gott für gut und stark befindet, und denen er eine solche Prüfung überhaupt nur zutraut. Von einem spanischen Bibelkommentator aus dem 15 Jh., d.h. der Zeit der christlichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel, die mit Vertreibungen oder Zwangstaufen verbunden war, stammt die folgende Erklärung, die weniger erklärt als viel mehr zur Treue zum Judentum und zum Aushalten mahnt:

 

"Der Lohn für ein gutes Potential ist nicht derselbe, wie der Lohn für eine tatsächliche gute Tat. "Es rühme sich nicht der, der seine Waffen anzieht wie der, der seine Waffen ablegt" (1. Kön 20,11), derjenige, der noch keine Heldentaten begangen hat, aber für den Kampf bereit ist, kann nicht mit einem verglichen werden, der diese Taten bereits getan hat und nun seine Rüstung auszieht. Aus diesem Grund prüft der  der Heilige, gepriesen sei er! die Gerechten und legt ihnen Leiden auf, um sie daran zu gewöhnen, so dass die tatsächlichen Taten ihrem inneren Charakter entsprechen können. Die Tat wird die Liebe zu Gott verstärken, da jede Tat ein unauslöschliches Zeichen auf dem Täter hinterlässt. Diese Übung in guten Taten heißt Prüfung."[14]

 

Abraham – und mit ihm jeder Geprüfte – erhält durch die Prüfung von Gott folglich die einmalige Chance, beweisen zu  können, wie groß seine Treue[15] zu Gott wirklich ist. Mit anderen Worten gesagt: "Der Lohn für eine gute Tat ist größer, als der Lohn für ein lediglich gutes Herz (=Gesinnung)."[16] Ähnlich klingt eine Erklärung aus dem Jahr 1934:

 

"Gottes Prüfungen sollen offenbar machen, was in einem Menschen ist, wie weit sein Gottesgehorsam geht (Ex 164 Dt 82 134), sie sind eine Belastungsprobe der Seele, sie bringen das Gold an den Tag… Nicht die Erfüllung an sich ist beabsichtigt, sondern es soll sich zeigen, wie Abraham sich dabei verhalten wird. Damit werden wir sofort an das Buch Hiob erinnert."[17]

 

Awraham sprach: "Hier bin ich!" [2]Da sprach Gott: "Nimm deinen Sohn, … Awraham fragte: "Welchen? Ich habe zwei Söhne." … deinen einzigen, …  "Der eine ist der einzige seiner Mutter und der andere ist der einzige seiner Mutter." …den du liebst …, "Beide sind mir lieb."[18] …nämlich Jizchak. Mit diesem Dialog interpretiert der Babylonische Talmud die Weitschweifigkeit des Textes in Gen 22,2. Literarisch liegt hier eine Steigerung vom Allgemeinen zum Besonderen vor. Awrahams Dialog mit Gott im Talmud legt Awraham jedoch gleichzeitig eine Charaktereigenschaft bei, die er bereits früher gezeigt hatte (Gen 18,17-33). Er hört Gott nicht – wie etwa Noach in Gen 6,13-22 – schweigend zu und ist unkritisch gehorsam. Er argumentiert mit Gott. Dies gilt als eine positive Charaktereigenschaft Awrahams. Gehe hin … Im Hebräischen steht hier eine ungewöhnliche Wortverbindung, die nur noch einmal in der Tora vorkommt: lech lecha. Wörtlich übersetzt bedeuten sie: "Geh für dich." Rabbi Schlomo ben Jizchak ("Raschi", (1040-1105) erklärte: "Gehe zu deinem Nutzen und zu deinem Glück"[19]. Zweimal in seinem Leben hörte Awraham diese Worte. Sie markieren den Beginn seiner Beziehung zu Gott: "Gehe hin – lech lecha – aus deinem Land, von deinen Geburtsort und von deines Vaters Hause in das Land, das ich dir zeigen werde" (Gen 12,1). Mit "Gehe hin – lech lechain das Land Morija beginnt nun das letzte Gespräch zwischen Awraham und Gott. Der Midrasch wägt ab, welche der beiden Aufforderungen "Gehe hin" größere Bedeutung habe. Die Wahl fällt auf die zweite: hier in Gen 22,2 werde eine konkrete Ortsangabe gegeben, die beim ersten Mal in Gen 12,1 fehlte. Es ist für Awraham diesmal kein Aufbruch ins Ungewisse, – für Jizchak hingegen schon. Raschi identifizierte Morija auf der Grundlage von 2. Chron 3,1 mit Jerusalem. Ein Midrasch aber erklärte, Morija sei der "Ort, von dem aus die Lehre (hora'a) in die Welt ging".[20] Gott hätte Awraham also gesagt: "Gehe hin zum Ort der Lehre". Andere meinten: … von dem aus die Gottesfurcht (jira) in die Welt ging":[21] also: "Gehe hin zum Ort der Gottesfurcht." Die Interpretationen über die Bedeutung des Ortsnamens spiegeln die Frage nach dem Ziel der Prüfung wieder: War sie Vorabschattung des Tempelkults in Jerusalem? Oder des Lehrhauses? Oder des Bethauses?

 

… Und bringe ihn dort als Ganzopfer dar… "Kann es denn ein Opfer geben ohne einen Priester?" fragt der Midrasch.[22] Awraham war längst als Priester geweiht, ist die Antwort, heißt es doch in Ps 110, der in jüdischen Tradition auf Awraham bezogen wird: "Du bist ein Priester seit jeher" (V.4).[23] Das liberale Judentum im 19. Jh. lehrte, Gen 22 schildere die historische Abschaffung der Menschenopfer und ihre Ersetzung durch Tieropfer, eine These, die früh in der historisch-kritischen Wissenschaft aufkam. Sie lässt jedoch offen, wieso die Tieropfer nicht von Gott selbst eingesetzt wurden, sondern – recht wenig autoritativ – als zufällige Entdeckung des Menschen dargestellt werden (Gen 22,13)[24]. Sie zeigt gleichzeitig, dass die Identifikation mit dem gebundenen Jizchak dem Optimismus des deutsch-bürgerlichen Judentums im 19. Jh. völlig fremd geworden war. Gen 22 wurde zu einem religionsgeschichtlichen Zeugnis einer überholten Epoche, orthodoxe Juden hielten dagegen am extremen Gehorsam Awrahams fest. Die lateinische Bibelübersetzung gibt den hebräischen Begriff für "Ganzopfer" mit holocaustum ("vollständig Verbranntes") wieder. Seit den 50er Jahren, vermehrt seit den 80er Jahren des 20. Jh. wird bezeichnet "Holocaust" die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Mitläufer. Die meisten Juden selbst benutzen diesen Begriff mit seiner religiösen Konnotationen jedoch bewusst nicht, sondern reden von "Vernichtung, Katastrophe" (im heutigen Hebräisch: Schoah). Es war kein "Opfer" für Gott. Es war sinnlose Vernichtung, fern von Gott, gerade kein Brandopfer … auf einem der Berge, den ich dir zeigen werde." Dem Bibelkommentator Abraham Ibn Esra (1092-1167) zufolge war es der Berg, auf dem später der Tempel gebaut wurde.[25] Awraham und Jizchak erleben die dunklen Seiten Gottes folglich gerade an dem Ort, über den andere lehren, Gott würde sich dort offenbaren (2. Chron 3,1): "Dass deine Augen Tag und Nacht geöffnet seien nach diesem Haus, nach dem Ort, von dem du verheißen hast, deinen Namen dasselbst hinzusetzen, dass du zuhörst dem Gebet, dass dein Knecht nach dieser Stätte hin betet" (2. Chron 6,21), nach dieser Stätte hin, an der Jizchak gebunden wurde!

 

[3]Awraham stand des Morgens früh auf, wie schon einmal, als er auf Saras Wunsch hin seinen Sohn Jischmael samt seiner Mutter in die Wüste schicken musste (Gen 21,14). Raschi erklärt: Er stand früh auf, dass heißt er war eifrig, das Gebot Gottes zu erfüllen.[26] Er sattelte seinen Esel, obwohl Knechte bei ihm waren? Rabbi Schimon bar Jochai erklärte: "Liebe bringt die gewöhnliche gesellschaftliche Ordnung durcheinander".[27] Die Liebe zu Gottes Gebot lässt den eigenen gesellschaftlichen Rang zweitrangig werden. Die Burschen bekommen in der ganzen Geschichte nichts zu tun, sie laufen bloß mit. Er nahm seine zwei Burschen mit und seinen Sohn Jizchak, spaltete Opferholz, machte sich auf und ging … "Gehen" (halach) ist ein Leitwort dieser Geschichte. Es findet sich siebenmal[28] und veranschaulicht die Dynamik der Erzählung sowie Awrahams und Jizchaks gehorsamen Wandel vor Gott, ihr Gehen … an den Ort, welchen ihm Gott gezeigt hatte. [4]Am dritten Tage … Nicht gleich am ersten, "damit die Völker der Welt nicht sagen: Gott hat ihn verwirrt, so dass er hinging  und seinen Sohn tötete."[29]

 

"Es wird ein Weg zurückgelegt … aber von dem Weg wird nichts gesagt, als daß er drei Tage dauerte …; am dritten Tag hob er seine Augen auf … Dieses Augenaufheben ist die einzige Geste, ja überhaupt das Einzige, was von der Reise berichtet wird…; es ist, als ob auf der Reise Abraham vorher nicht nach rechts und nach links geschaut, alle Lebensäußerung bei sich und seinen Reisegefährten unterdrückt habe, ausgenommen nur das Schreiten ihrer Füße. So ist die Reise wie ein schweigendes Schreiten durchs Unbestimmte und Vorläufige, ein Atemanhalten, ein Vorgang, der keine Gegenwart hat und zwischen dem Vergangenen und dem Bevorstehenden eingelagert ist wie eine unausgefüllte Dauer, die aber doch gemessen ist: Drei Tage!"[30]

 

Der Midrasch beobachtete, dass der dritte Tag der typische Zeitpunkt für Gottesoffenbarungen, Rettungen und Handlungen zum Guten sei.[31] Rabbi Levi meinte, alle späteren dritten Tage seien Nachahmungen von Awrahams drittem Tag. Maimonides erklärte die Zeitspanne als Reifungsprozess:

 

Wenn die Tat, durch die er seine Bereitschaft, seinen Sohn zu töten, sofort stattgefunden hätte, als er das Gebot erhielt, könnte es das Ergebnis von Verwirrung gewesen sein, und nicht eine bedachte Handlung. Aber die Tatsache, dass er sie drei Tage nachdem er das Gebot erhalten hatte, ausführte, zeigt dass er das, was dem göttlichen Gebot entspricht und im Einklang mit seiner Liebe zu Gott und Gottesfurcht steht, in vollem Bewusstsein, nach reiflicher Überlebung und sorgfältiger Prüfung durchführt.  … Denn Abraham beeilte sich nicht, Isaak zu töten aus Angst, Gott möge ihn – Abraham – deswegen töten oder arm machen, sondern allein, weil es die Pflicht des Menschen ist, Gott zu lieben und zu ehren, selbst ohne Hoffnung auf Lohn oder Angst vor Strafe."[32]

 

… da blickte Awraham auf und sah den Ort von ferne. Woran mag er den Ort erkannt haben? Erneut betont der Midrasch die aktive Rolle, die Jizchak in der ganzen Geschichte spielte. Awraham habe Jizchak gefragt: "Mein Sohn, siehst du, was ich sehe?" Jizchak antwortete: "Ja". Awraham fragte seine beiden Burschen: "Seht ihr, was ich sehe?" Sie antworteten: "Nein".[33] [5]Da sprach Awraham zu seinen Burschen: "Bleibt nur hier mit dem Esel! Die Knechte, die nichts sahen, bilden eine Gemeinschaft mit dem Esel. Ich aber und dieser Knabe, wir wollen bis dorthin gehen, uns zum Anbeten niederwerfen und zu euch zurückkehren." Er prophezeite, dass sie beide gemeinsam zurückkehren würden.[34] Rabbi Jizchak lehrte: Alles geschieht als Lohn für die Anbetung Gottes. Awraham kehrte zurück als Lohn für die Anbetung Gottes.[35]

 

[6]Awraham nahm das Opferholz, legte es auf seinen Sohn Jizchak, nahm in seine Hand das Feuer und das Schlachtmesser, denn jedes Opfer musste makellos sein. Hätte Jizchak sich am Feuer oder Messer verletzt, hätte er nicht mehr zum Opfer getaugt und Awraham hätte Gottes Willen nicht erfüllen können. So gingen sie beide zusammen. Der Midrasch schreibt Jizchak erneut eine aktive Rolle zu. Samael, ein böser Engel[36], sei ihm auf dem Weg erschienen. "O Sohn einer unglücklichen Mutter! Er wird dich schlachten!" – "Ich akzeptiere mein Schicksal", sagte Jizchaq. "Wer aber", wandte Samael ein, "wer wird dann all die schönen Kleider tragen, die deine Mutter gemacht hat. Sie werden dann als Erbe an Jischmael gehen, den sie hasst."[37] [7]Da sprach Jizchak zu seinem Vater Awraham und sagte: "Mein Vater!" Awraham sprach: "Hier bin ich, mein Sohn!" Jener sprach: "Hier ist zwar Feuer und Holz,wo ist aber das Lamm zum Ganzopfer?" [8]Awraham sprach: "Gott wird sich selbst ausersehen das Lamm zum Ganzopfer, mein Sohn!" So gingen sie beide zusammen, "der eine, um zu binden, der andere, um gebunden zu werden, der eine, um zu opfern, der andere, um geopfert zu werden."[38]

 

"Selbst wenn Gott der dominante Vater und Awraham ein vertrauender und gehorsamer Sohn ist, so erscheint auf der menschlichen Ebene Awraham als dominanter Vater und Jizchak als Archetyp eines unterwürfigen Sohnes. Nur ein einziges Mal spricht Jizchak und stellt die schicksalhafte Frage. Anschließend ist er das bloße Objekt der Geschichte. Awraham, der Fürst und Patriach, der geehrte und langjährige Freund Gottes, schüchtert seinen ängstlichen Sohn ein, dessen Wille zur Unabhängigkeit übergenaue und fürsorgliche Eltern gut brechen konnten. Er hat keine Persönlichkeit außer der seines Vaters. Wie einer gehen sie zusmamen zum Opfer (22,8), und schweigend unterwirft sich Jizchak der schrecklichen Tat. Die Geschichte kann als Beispiel für eine Eltern-Kind-Beziehung gelesen werden. In gewisser Weise versuchen alle Eltern ihre Kinder zu beherrschen und stehen in der Gefahr, sie ihren elterlichen Plänen und Hoffnungen opfern zu wollen.In der biblischen Geschichte ist Gott gegenwärtig und kann deshalb die Hand des Vaters aufhalten. In zu vielen Wiederholungen der Geschichte ist Gott abwesend und das Messer fällt. Die Akedah wird also ständig wiederholt mit ihrer Prüfung und ihrem Schrecken."[39]

 

Für manch einen Menschen werden Gottes dunkle Seiten durch das Verhalten anderer, gerade religiöser Menschen geschaffen. Durch die Fokussierung auf Jizchak rückt auch das Verhalten Awrahams in unklares Licht. Indem er Jizchak auf loderndes Feuer legte, verdunkelte er Gottes Licht für Jizchak. Die dunklen Seiten Gottes sind meistens, wenn nicht gar immer in dunklen Seiten der Menschen begründet.

 

[9]Als sie nun an den Ort kamen, den ihm Gott gezeigt hatte, baute Awraham einen Altar, wo war Jizchak? Awraham hatte ihn genommen und versteckt, damit er sich nicht etwa durch einen herabfallenden Stein verletzte und als Opfer unbrauchbar würde.[40] Er ordnete das Holz, band seinen Sohn Jizchak. Jizchak bat ihn, ihn fester zu binden, er könne sich vor Angst bewegen und sich selbst verletzten und das Opfer unbrauchbar machen.[41] Und er legte ihn auf den Altar über das Holz. Wessen (Glaubens-)Kraft war größer, Awrahams oder Jizchaks? fragte R. Bachja ben Ascher. "Manche sagen, die Kraft Awrahams", denn er sollte sein Kind mit der eigenen Hand töten. Das ist schlimmer als der eigene Opfertod. "Und manche sagen, die Kraft Jizchaks war größer, denn Awraham hat von Gott den Auftrag erhalten, Jizchak aber von seinem Vater (d.h. von einem Menschen)."[42] [10]Hierauf streckte Awraham seine Hand aus. Awraham sah auf seinen Sohn Jizchak. Dieser aber schaute gen Himmel und sah die Engel Gottes weinen. Ihre Tränen fielen in die Augen Jizchaks, so dass sie später trübe wurden. Awraham aber sah die Engel nicht.[43] Und er nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Abrahams und Jizchaks Gehorsam wurde mit dem Gehorsam der Makkabäer verglichen, die lieber ihr Leben ließen, als der jüdischen Religion untreu zu werden. Seitdem standen Awraham und Jizchak immer wieder Modell für die Treue bis zum Tod. Kann man aus Gen 22 lernen, dass nichts, wirklich nichts vor der Treue zu Gott steht, dass man bis zum äußersten gehen darf für Gott? Rechtfertigt die Treue zu Gott also die Selbstmordattentäter unserer Tage, jene modernen Awrahams, den religiösen Terroristen, die sogar ihr eigenes Leben für den Kampf für Gott einsetzen. Ihr Glaube an Gott fügt anderen Menschen Leiden zu, wie Awraham Jizchak ergreift, zu einem nur ihm bekannten Ort führt, das eigene Opferholz tragen lässt, im Ungewissen über das Lamm lässt, bindet, auf den Altar legt, seine Hand ausstreckt, das Messer erhebt, im guten Glauben, Gott gehorsam zu sein.

 

[11]Da rief ihm ein Engel des Ewigen vom Himmel zu und sprach: "Awraham! Awraham!" Er sprach: "Hier bin ich!" [12]Jener: "Strecke deine Hand nicht nach dem Knaben und tu ihm nichts!

 

"Der Engel sagte: Lege deine Hand nicht an den Knaben…" Wo war das Messer? Tränen waren aus den Augen des Engels auf es gefallen und hatten es aufgelöst. "Dann will ich ihn erwürgen", sagte Abraham. "Lege deine Hand nicht an den Knaben!" – "Lass mich einen Tropfen Blut aus ihm bringen!" – "Noch tue ihm irgendetwas! D.h.: Füge ihm keinerlei Schaden zu!"[44]

 

Dieser Midrasch weist darauf hin, dass der Engel das Messer gar nicht erwähnte, nur Awrahams Hand, zum anderen erklärt er die Doppelheit der Formulierung ("Strecke deine Hand nicht aus!"; "Tue ihm nichts") als Reaktion auf ein Handeln Awrahams. Awrahams Treue zu Gott trotzt also selbst einem Engel. Doch dieser Midrasch lässt auch erschrecken. Awraham erscheint als Fanatiker, der selbst dann, als deutlich war, dass Gott gar nicht wollte, was er zu tun gedenkt, glaubt, der nun überholten Version von Gottes Gebot nach wie vor treu sein zu müssen.

 

Denn nun weiß ich, … Brauchte Gott diese grausame Prüfung, um zu wissen? Litt Jizchak zur Weiterbildung Gottes? Der Philosoph Moses Maimonides (1135-1204) bestritt, dass hier etwas zur Belehrung Gottes geschah, wie es der Text vorgibt.

 

"Der einzige Sinn der Prüfungen, die in der Schrift erwähnt werden, ist, den Menschen zu lehren, was er tun soll … so dass das Ereignis, in dem die Prüfung besteht, nicht das eigentliche Ziel ist, sondern nur ein Beispiel zu unserer Belehrung und Anleitung. Daher die Worte [Gottes]: 'jetzt weiß ich' … Wissen meint hier, dass alle Völker der Welt wissen sollen. … Die Erzählung über Abraham unseren Vater, der seinen Sohn bindet, lehrt zwei Grundprinzipien unserer Religion. Zum einen zeigt sie uns das Ausmaß und die Grenze der Gottesfurcht. Abraham wird geboten eine gewisse Tat auszuüben, die mit keiner Abgabe von Besitz oder irgendeinem Opfer des Lebens verglichen werden kann, denn sie übersteigt alles, was getan werden kann. … Er war kinderlos und sehnte sich nach einem Kind; er hatte große Reichtümer und glaubte daran, dass aus seinem Samen ein Volk hervorgehen würde. Nachdem die lange Hoffnung auf einen Sohn schon aufgegeben war, wurde ihm ein Sohn geboren. Wie groß muss die Freude über dieses Kind gewesen sein! Wie innig muss er es geliebt haben! Und dennoch, weil er Gott fürchtete und liebte zu tun, was Gott gebot, dachte er wenig an dieses geliebte Kind und stellte all seine Hoffnungen, die mit ihm verbunden war, zurück und willigte ein, ihn zu töten …  allein, weil es die Pflicht des Menschen ist, Gott zu lieben und zu ehren, selbst ohne Hoffnung auf Lohn oder Angst vor Strafe. Der Engel sagt deshalb zu ihm: "Denn jetzt weiß ich" usw. (Gen 22,12), dass heißt, aus dieser Tat, für die du das Recht verdient hast, wahrhaft ein gottesfürchtiger Mann genannt zu werden, sollen alle Menschen lernen, wie weit die Liebe zu Gott gehen muss."[45]

 

… dass du gottesfürchtig bist, weil du deinen einzigen Sohn mir nicht verweigert hast." War Abraham in seiner Treue zu weit gegangen?

Schon im frühen Mittelalter wurde dies gefragt. Ein Midrasch erzählt:

 

Rab Acha sagte: Abraham fragte sich: Gewiss gibst du Ausweichmanövern nach. Gestern sagtest du: "In Jizchak werden dir Nachkommen genannt werden" (Gen 21,12). Dann nahmst du das zurück und sagtest: "Nimm nun deinen Sohn" (Gen 22,2) und jetzt bittest du mich: "Lege deine Hand nicht an den Knaben!" (ibid). Da sagte der Heilige, gepriesen sei Er, zu ihm: "O Abraham. 'Ich entweihe nicht meinen Bund' (Ps 89,35). 'Und ich will meinen Bund mit Isaak aufrichten' (Gen 17,21). Als ich dich bat 'Nimm nun deinen Sohn, usw.', auch da galt: 'was aus meinen Lippen ging, ändere ich nicht' (Ps 89,35). Sagte ich dir: "Schlachte ihn" ()? Nein, sondern: "Bring ihn hinauf" (). Du hast ihn hinaufgebracht, jetzt bring ihn wieder herunter."[46]

 

Dieser Midrasch weist uns in die Grenzen unseren Antworten. Gewiss kann die hebräische Wurzel  (Hifil) "als Ganzopfer darbringen" bedeuten. Wörtlich meint sie aber nur ein "hinaufbringen". Sie ist ähnlich doppeldeutig wie etwa das Wort "heimgehen" in manchen Kreisen[47]. Der Midrasch erklärt, Abraham hat Gott komplett missverstanden. Möglicherweise also lehrt uns der Blick in die vermeintlich dunklen Seiten Gottes viel mehr über die Schwächen unserer eigenen Gottesbilder. Kann es nicht sein, dass wir umdenken müssen, dass wir bisher Gott vollständig missverstanden haben?

 

[13]Awraham hob seine Augen auf und sah einen Widder (vorbeilaufen). Hernach wurde er in den Hecken mit seinen Hörnern verwickelt. Da ging Awraham hin, nahm den Widder und brachte ihn als Ganzopfer dar anstatt seines Sohnes. Bis heute erschallen in den Synagogen am Neujahrsfest Töne aus einem Widderhorn, um Gott daran zu erinnern, dass er an die Menschen denkt.[48] [14]Awraham nannte denselben Ort "Haschem Jir'eh", wie noch jetzt gesprochen wird. "Auf dem Berge des Ewigen wird es sich zeigen." Was immer Awraham dort getan hat, was immer Jizchak dort erlitten hat, der Ort, an dem alles geschah, bekommt einen Namen: Gott sieht! Der Ort der dunkelsten Gotteserfahrung heißt: Gott sieht. Es kommt also in der Finsternis nicht darauf an, dass wir sehen. Für jede Finsternis aber gilt: Gott sieht! – Oder hat dieser Name denselben Wert wie der Satz "Arbeit macht frei" am Tor eines Konzentrationslagers? Auch der Satz "Gott sieht" kann für Menschen voller Dunkelheit sein.

 

[15]Hierauf rief ein Engel des Ewigen den Awraham zum zweiten Mal vom Himmel herab [16]und sprach: "Bei mir selbst habe ich geschworen, spricht der Ewige, dass, weil du dies getan und deinen einzigen Sohn nicht verweigert hast, [17]dass ich dich segnen und deinen Samen mehren will wie die Sterne des Himmels und wie Sand am Ufer des Meeres, sodass dein Same einnehmen soll das Tor seiner Feinde. [18]Mit deinem Samen sollen sich auch segnen alle Völker der Erde zur Belohnung, weil du meiner Stimme gehorcht hast." [19]Hierauf ging Awraham zu seinen Burschen zurück. Sie machten sich auf, gingen zusammen nach Beer Schewa. Zum dritten Mal in dieser Geschichte heißt es "sie gingen zusammen" (wajelchu jachdaw, vgl. Vers 6 u. 8). Das neue Ziel ist Beer Schewa. Hier wird Gott Jizchak mit tröstenden Worten erscheinen: "Ich bin der Gott deines Vaters Awraham. Fürchte nichts! Denn ich bin mit dir und will dich segnen und deinen Samen mehren um meines Dieners Awraham willen" (Gen 26,23). Und Awraham ließ sich nieder in Beer Schewa. [20]Es war nach diesen Begebenheiten, als dem Awraham gesagt wurde: "Siehe! Milka hat auch Kinder geboren deinem Bruder Nachor, [21]nämlich seinen ältesten Sohn Uz und dessen Bruder Bus wie auch den Kemuel, den Stammvater von Aram [22]ferner den Kesched, den Chaso, den Pildasch, den Jidlaf und den Betu'el. [23]Betu'el aber hat Riwka gezeugt. …". Die letzten Verse des 22. Kapitels gehören wesentlich zur Geschichte hinzu.  Erneut gibt es ein "nach diesen Begebenheiten", die Bindung Jizchaks ist damit nicht der eigentliche Wendepunkt, er wird überboten durch eine Namenliste von Lebenden. Awraham erfährt nach dem fast erfolgten Tod des einzigen Sohnes Saras von den acht Söhnen seiner Schwägerin Milka. Die Zahl acht steht in der Bibel oft für Neuanfänge bzw. jetzt erst fängt die eigentliche Geschichte an. Einer Neffen Awrahams wird später Riwka zeugen. Mit Riwka aber kommt Hoffnung in die Geschichte. Sie wird Jizchaks Frau werden (Gen 24) und Jaakow (Israel) und Esaw gebären. Jizchak wird also tatsächlich gesegnet sein und der Ahn vieler Nachkommen sein: Israel (= Jaakow) – als Lohn für Awrahams Treue (Gen  26,4.24). Der liturgische Ort von Gen 22 betont diese Zukunftsperspektive des Textes. Gen 22 ist die Toralesung am zweiten Tag des jüdischen Neujahrsfestes (Rosch ha-Schana). Die Prophetenlesung ("Haftara"), die diese Toralesung abschließt, macht unmissverständlich klar, wie der Text gehört werden soll. Sie erzählt von Rachel, der Schwiegertochter Jizchaks und Riwkas:

 

"So spricht der Ewige: Eine Stimme der Klage wird zu Rama gehört, ein bitterlich Weinen; Rachel weint um ihre Kinder. Sie kann sich nicht trösten um ihre Kinder, denn sie sind dahin. So spricht der Ewige: Hör auf zu weinen! Deine Augen sollen nicht mehr Tränen vergießen, denn es gibt einen Lohn für dein Tun, ist des Ewigen Spruch. Deine Kinder werden zurückkehren aus dem Land des Feindes. Deine Zukunft ist hoffnungsreich. Deine Kinder werden zurückkehren in ihr Gebiet." (Jer 31,14-16)

 

Dies ist die Geschichte der Akeda in einem anderen Wortlaut. Jizchak erscheint hier als Symbol für das Volk Israel im Exil. Gen 22 beschreibt in der jüdischen Liturgie kein Einzelschickal, sondern ein Volk, das knapp dem Tod entkommen ist. Diese Prämisse galt im babylonischen Exil, wo man sich als übriggebliebener Rest sah, aber immerhin: man war da, als Rest. Es galt nach den beiden jüdisch-römischen Kriegen, als der Tempel zerstört war, Jerusalem nicht mehr betreten werden durfte, die Tora nicht mehr gelehrt werden durfte, aber man war dennoch da. Dies galt im Mittelalter nach unzähligen Progromen, welche die Gemeinden dezimiert oder gar zerstört haben, aber man war immer noch da, wie Isaak - schon gebunden auf dem Altar, aber man hatte überlebt. Die Hoffnung, eines Tages in ein Land zurückzukehren, in dem man nicht mehr gebunden werden würde, blühte. Heute können Jüdinnen und Juden zwar in Israel leben, dennoch bleibt der Friede in diesem Land ein Ziel, dass erstrebt wird. Am Neujahrstag und jeden Morgen soll man sich vergewissern, dass es eine hoffnungsvolle Zukunft gibt, wie immer die Gegenwart auch ist. Es gibt zwar Weinen, aber ebenso auch Hoffnung. Dies eine wesentliche Prämisse des Judentums.

 

Der Vater erhob seine Augen und ein Weinen

wandert, wandelt, endlos, anonym;

der Sohn erhebt sein Herz: das Weinen der Mutter

durchflammt das Firmament wie Feuer.

Generationen erklommen den Scheiterhaufen

und wurden von ihm genommen;

vergessen ist der Geschlachtete

und auch der Schlächter, –

doch das Weinen der Mutter

hält ewiglich an.

       Hayyim Robinson[49]

 

Der Blick in die vermeintlich dunklen Seiten Gottes lehrte uns mehr über die Schwächen unserer Gottesbilder als über Gott und mehr über die dunklen Seiten der Menschen als über die Schatten Gottes. Könnte es sein, dass wir umdenken müssen? Könnte es sein, dass unsere bisherigen Vorstellungen von Gott als dem Allmächtigen, Allwissenden, Allgegenwärtigen, usw. nicht stimmen? Könnte es sein, dass gerade durch die Aktionen religiöser Menschen Gottes Gegenwart verfinstert wird? Könnte es sein, dass wir vor allem darauf achten müssten, nicht anderen Menschen Gott zu verdunkeln? Vielleicht braucht man dazu in manchen Zeiten – ganz unabhängig davon, wie klar uns Gottes Angesicht leuchtet – Awrahams Mut, alles zu riskieren und Jizchaks Kraft, Angst zu überwinden.

 

Selbst im Inferno, selbst dort gab es jene,

die wir die Gerechten der Völker nennen.

Einige ließen ihr Leben, um Juden zu schützen.

Wer kann solchen Mut ermessen?

Als so viele sich fürchteten, zu handeln,

da gaben sie Zeugnis für die Größe,

die Männer und Frauen erlangen können.

Schaut hin und nehmt es zu Herzen.

Wenn solche Tage jemals wiederkehren würden,

erinnert euch an diese Vorbilder und habt Mut.

Erwägt, was getan werden kann und was getan werden muss,

um nicht das Abbild Gottes aus euren Seelen zu vertreiben.[50]

 


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[1] Central Conference of American Rabbis (Hg.), Gates of Repentance. The New Union Prayerbook for the Days of Awe, New York 1996, S. 436. (Übersetzung aus dem Amerikanischen: A. Böckler).

[2] Vgl. Gen 22,16f: "…Bei mir selbst habe ich geschworen, spricht der Ewige, dass, weil du dies getan und deinen einzigen Sohn nicht verweigert hast, dass ich dich segnen und deinen Samen mehren will wie die Sterne des Himmels und wie Sand am Ufer des Meeres, sodass dein Same einnehmen soll das Tor seiner Feinde. …"

[3] Zum Ort im Morgengebet siehe z.B. Siddur Schma Kolenu. Ins Deutsche übersetzt von Raw Joseph Scheuer, Zürich 1996, 29; Seder ha-Tefillot. Das jüdische Gebetbuch. Hg. von Jonathan Magonet in Zusammenarbeit mit Walter Homolka. Aus dem Hebräischen von Annette Böckler, Gütersloh 1997, 157.159.

[4] Dan 9,18; Koh 3,19; vgl. Koh 5,8-16; Babylonischer Talmud: Joma 87b; Midrasch Mechilta de Rabbi Jischmael, Beschallach 10 (Zu Ex 15,18). In der Mechilta hat die Selbstdefinition als "Kinder deines Geliebten Jizchaks"  jedoch noch nicht den Zusatz "der gebunden wurde".

[5] Irving Abrahamson, Against Silence. The Voice and Vision of Elie Wiesel, Bd. I, New York 1985, S. 385. Wiesel hatte den Begriff "Holocaust" auf der Grundlage von Gen 22 Ende der 50er Jahre in die Diskussion eingebracht. Er wählte den Begriff, um das spezifisch jüdische der Leiden hervorzuheben und folgte hierin der alten jüdischen Tradition, die das jüdische Volk mit dem überlebenden Jizchak identifizierte. Ende der 80er Jahre aber distanzierte sich Wiesel scharf von dem Begriff "Holocaust": "Ich muß Ihnen gestehen, daß ich leider derjenige war, der dieses Wort in diesem Zusammenhang eingeführt hat, und ich bin nicht stolz darauf. Ich kann es nicht mehr länger benutzen" (E. Wiesel, Some Questions That Remain Open, in Asher Cohen/ Joav Gelber/ Charlotte Wardi (Hg.), Comprehending the Holocaust, Frankfurt u.a. 1988, 9-20, S. 13.) Die Opferterminologie schreibt denjenigen, die das Opfer bringen – d.h. den Nazis – priesterliche Funktionen zu, sie werden zudem zu Werkzeugen eines Gottes, der das Brandopfer (Holocaust) in Gen 22 ja verlangte, der Begriff Holocaust für die Schoah ist daher äußerst problematisch. – Zu Herkunft und Bedeutung der Begriffe "Holocaust" und "Schoah" siehe vor allem Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken nach Ausschwitz, Gütersloh 1995, S. 100-110.

[6] Pnina Navè Levinson, Esther erhebt ihre Stimme. Jüdische Frauen beten (GTB 538), Gütersloh 1993, 26f. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von P.N. Levinson.)

[7] Die deutsche Übersetzung des Bibeltextes basiert auf: Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn. Mit den Prophetenlesungen im Anhang, hg. von Annette Böckler. Mit einem Vorwort von Tovia Ben-Chorin, Berlin 2001.

[8] Raschbam zu Gen 22,1.

[9] Raschi zu Gen 21,34, der sich hier auf eine ältere Deutung aus Midrasch Seder Olam stützt.

[10] Babylonischer Talmud: Sanhedrin 89b.

[11] Babylonischer Talmud: Sanhedrin 89b; Raschi zu Gen 22,1.

[12] Vgl. die anderen Belege von Achar(e) ha-dewarim ha-eleh in Gen 15,1 (Verheißung eines Sohnes an Awraham); 22,20 (Geburt Riwkas); 39,7 (Potifars Frau verführt Josef); 40,1 (Mundschenk und Bäcker kommen ins Gefängnis zu Josef); 48,1 (Segen für Efrajim und Menasche mit überkreuzten Händen); Jos 24,29 (Tod Jehoschuas); 1. Kön 17,17 (Elijahu belebt ein totes Kind); 21,1 (Nabot wird der Weinberg enteignet). Siehe dazu auch Benno Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, S. 491.

[13] Midrasch Bereschit Rabba 55,2.

[14] Josef Albo, Sefer Ikkarim.

[15] Das Hebräische Wort für "Treue, Standhaftigkeit" wurde später in der griechischen Übersetzung oft mit "Glaube" übersetzt. Abrahams Glaube meint also vom Hebräischen her seine Treue zu Gott.

[16] Nachmanides zu Gen 22,1.

[17] Benno Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, S. 491.

[18] Die Einwände Awrahams finden sich im Babylonischen Talmud, Sanhedrin 89b. Vgl. auch Raschi zu Gen 22,2 und Midrasch Bereschit Rabbi 55,7.

[19] Raschi zu Gen 12,1.

[20] Midrasch Bereschit Rabba 55,7. Morija () wird hier von dem Verb horija ( "lehren") abgeleitet.

[21] Ebd.

[22] Midrasch Bereschit Rabba 55,7.

[23] Zur Deutung von Ps 110 auf Awraham siehe z.B. Midrasch Tehillim zu Ps 110.

[24] Dazu ausführlicher: Nahum M. Sarna, Understanding Genesis, New York 1966, S. 157ff.

[25] Awraham Ibn Esra zu Gen 22,2.

[26] Raschi zu Gen 22,3.

[27] Midrasch Bereschit Rabba 55,7.

[28] In Vers 2, 3, 5, 6, 8, 13, 19.

[29] Midrasch Tanchuma Wajera 22; Midrasch Bereschit Rabba 56,5.

[30] Erich Auerbach, Mimesis, 3. Aufl. Bern/München 1964, S. 11-12.

[31] Es wird verwiesen auf Ex 19,16; Jos 11,16; Jona 2,1; Esra 8,32; Esther 5,1.

[32] Moses Maimonides, More Newuchim III,24.

[33] Midrasch Bereschit Rabba 56,2.

[34] Raschi zu Gen 22,5; Bereschit Rabba 56,2.

[35] Midrasch Bereschit Rabba 56,2.

[36] Vgl. Babylonischer Talmud: Sota 10b.

[37] Midrasch Bereschit Rabba 56,4.

[38] Midrasch Bereschit Rabba 56,4. Vgl. Raschi zu Vers 6.

[39] W.Gunther Plaut (Hg.), Die Tora in jüdischer Auslegung. Autorisierte Übersetzung und Bearbeitung von Annette Böckler, Band I: Berschit/Genesis, Gütersloh 1999, S. 217. Die englische Ausgabe des Genesiskommentars erschien erstmalig 1974.

[40] Midrasch Bereschit Rabba 56,5.

[41] Midrasch Pirke de Rabbi Eliëser; Midrasch Tanchuma und andere.

[42] Zitiert aus: Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen. Band I: Die alltestamentlichen Predigttexte des 3. Jahrgangs, Stuttgart 1986, S. 84.

[43] Targum PseudoJonathan zur Stelle und Raschi zu Gen 27,1.

[44] Midrasch Bereschit Rabba 56,7.

[45] Moses Maimonides, More Newuchim III,24.

[46] Midrasch Bereschit Rabba 56,8 Ende.

[47] Es kann euphemistisch benutzt werden um zu sagen, dass jemand gestorben ist oder aber ganz wörtlich, dass jemand von einem Ort xy buchstäblich wieder nach Hause zum Ort z geht.

[48] Daneben gibt es auch viele andere Deutungen des Schofartons. Seit Maimonides (12. Jh.) wird er z.B. auch als Umkehrruf für die Menschen gedeutet. Die Deutung des Schofartons mit der Akeda ist jedoch sekundär. Die usprüngliche Toralesung für das Neujahrsfest ist Gen 21: Gott erinnert sich an Sara. Am zweiten Tag des Festes las man in der Rolle das nächste Kapitel, welches jedoch durch die Leiden im Laufe der jüdischen Geschichte eine besondere Bedeutung bekam. Nachdem Gen 22 zu einem wichtigen Text geworden war, bezog man auch das Schofarblasen auf diese Geschichte.

[49] Aus dem Englischen von Annette Böckler. Zitiert aus: W.Gunther. Plaut (Hg.), Die Tora in jüdischer Auslegung. Band I: Bereschit/Genesis, Gütersloh 1999, S. 222.

[50] Gates of Repentance (s.o. Anm. 1), S. 439f. (Aus dem Amerikanischen von A.Böckler.)