Fragestellungen für die Proseminarbeit (Bibel)

 

Kritische Reflektion über das Vorverständnis

Erste eigene Übersetzung des Textes

(am Ende der Interpretationsphase sollte eine neue Übersetzung angefertig werden – so wörtlich wie nötig –, in die die Ergebnisse der Interpretation einfließen werden. Nur diese End-Übersetzung sollte der Arbeit präsentiert werden.)

Reflektion über das Vorverständnis:
Was fällt mir beim ersten, (vermeintlich) unvoreingenommen Lesen des Textes ein: Was freut mich spontan? Was stört/ärgert mich spontan? Was verstehe ich sofort? Wo ist mir der Text bisher begegnet? Welche Fragen wirft er auf? Etc. Etc. (Diese subjektive Wahrnehmung, die ich mir bewusst gemacht habe, sollte danach bei allen folgenden Schritten so weit wie möglich aussen vor bleiben, damit sie nicht im Hintergrund unsere Interpretation lenken, ohne dass wir es merken.)

 

Der Text und seine sprachliche Form

Strukturanalyse

• Wie ist die sprachliche Struktur des Textes? Sind die Sätze verbunden? Wenn ja, wie?

Dabei bedenken: die Einteilung in Sätze und Abschnitte stammt von den Masoreten (8. Jh. d.Z.), die Kapitel- und Verszählung aus dem christlichem Mittelalter (12. Jh.), diese Einteilungen müssen nicht die einzig möglichen sein!

• Hat der Text eine besondere Struktur, ist er z.B. chiastisch oder konzentrisch aufgebaut? Gibt es Inklusionen?

(Erst beobachten, später –in Diskussion mit der Sekundärliteratur – deuten)

 

Stilanalyse

• Überwiegen Verben oder Substantive? (Welchen Effekt für den Text hat dies?)

• Gibt es Dialoge? Welche Inhalte werden dort vermittelt?

• Gibt es Leitwörter? (Was bewirken sie?)

• Kommen Namen vor? Haben sie eine Bedeutung?

• Gibt es Wiederholungen? (Was bezwecken sie?)

• Finden sich rhetorische Mittel im Text (Metaphern, Ellipsen, rhetorische Fragen, etc.) und was bewirken sie?

(Literaturhinweis: Bühlmann, Walter; Scherer, Karl, Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlenspruch. Ein Nachschlagewerk, 2. Aufl. Gießen 1994)

• Gibt es auffällige Wörter, besondere grammatische Phänomene, unlogische Folgen, zeitliche Brüche, sachliche Widersprüche; scheinbar Überflüssiges; Inkonsistenzen?

• Gibt es literarische Gattungen, Formen, Formeln oder Floskeln in dem Text? Woran erkennt man sie? Welche Funktion hat dies in diesem Text?

 

Der Text und sein Inhalt

Erzählanalyse (in der Regel nicht in poetischen Texten)

• Wie ist der Text inhaltlich gegliedert? Gibt es Sinnabschnitte? Wodurch entstehen sie? Wie sind sie miteinander verbunden? Gibt es verschiedene Erzähleinheiten und wodurch entstehen sie?

• Gibt es einen Erzählplot? Wie sieht er aus?

• Wechseln Zeiten oder Personen oder Szenen? Wer spricht/handelt/sieht? Wann tritt welche Person auf? Gibt es Personen oder Themen, die spurlos verschwinden oder uneingeführt auftreten?

• Aus welcher Perspektive wird erzählt (point of view)?

• Welche Informationen werden zurückgehalten? Gibt es Aspekte, die der Leser weiß, aber die Personen in der Erzählung nicht? Werden Dinge für den Leser bereits vorweggenommen? Welchen Effekt hat dies?

• Wer ist der "Held" des Textes? (Wie wird dies im Text deutlich?)

• Was ist die Pointe der Erzählung? (Scopus) (Woran wird dies im Text deutlich?)

• Was ist das Hauptthema? Gibt es Nebenthemen?

• Wie ist das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit? Welche Wirkung hat es?

• Gibt es Wiederholungen von Inhalten? Welche Funktion hat die Wiederholung? Ist die zweite Version identisch mit der ersten? Wo sind Unterschiede und warum?

• In welchem größeren literarischen Kontext steht der Text? Ist der zu interpretierende Text eine in sich geschlossene Einheit oder ein Ausschnitt aus einer größeren Einheit? Wenn letzteres, welchen Platz nimmt er innerhalb der größeren Einheit ein?

 

Motivanalyse.

• Wird die im Text gesagte Sache auch an anderer Stelle im Buch gesagt? Gibt es Unterschiede zu diesen Parallelen?

• Finden sich in dem Text Traditionen oder Motive, die auch sonst im Tanach vorkommen?

• Gibt es Motive im Text, die gemeinorientalisch sind? Werden die Motive in diesem Text in besonderer Weise behandelt oder typisch?

 

In einem späteren Stadium, nachdem du möglichst viel selbst entdeckt hast, sammle bitte die Erkenntisse anderer (d.h. der Sekundärliteratur) zu diesen Fragen. In der ausformulierten Arbeit sollte deine Meinung im Gespräch mit den Meinungen anderer und auch diese anderen Meinungen im Gespräch miteinander argumentativ vorgestellt werden.

Denke daran, nicht nur zu beobachten, sondern auch zu fragen: Was bewirkt diese Beobachtung für mein Verständnis des Textes?

 

Der Text und seine Geschichte

 Wie ist die textliche Überlieferung des Textes in alten Handschriften, alten Übersetzungen, alten Drucken, Zitaten? ("Textkritik") (vgl. dazu E. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart u.a. 1997)

 

Müssen historische Sachfragen im Text geklärt werden (Sitten, Bräuche, Gegenstände, historische Umstände, etc.) Werden Orte oder Ereignisse genannt? Können diese Orte heute lokalisiert werden? Was wissen wir historisch über die Ereignisse? Steht der Text evtl. im Widerspruch zu dem, was man aus archäologischer Sicht heute weiß oder sind die Ergebnisse hier wie dort identisch? (Biblische Archäologie)

 

Könnte der Text Spuren einer literarischen Geschichte aufweisen? Die Frage nach der literarischen Entstehung eines Textes ist nur dann wichtig, wenn sie zur Interpretation des Textes Wesentliches beiträgt und wenn sie am Text selbst nachgewiesen werden kann. Nicht vergessen: Ziel der Exegese ist die Erklärung des Textes wie er uns heute überliefert ist, keine idealistische Rekonstruktion des Geistesgeschichte Altisraels. ("Literarkritik"; "Überlieferungskritik"; "Redaktionskritik")

• Enthält der Text Indizien auf seine mögliche Entstehungszeit(en)? Wie sicher sind diese Indizien? Wenn die Datierung unsicher ist, sollte sie bei der Interpretation des Textes nicht als Schlüssel fungieren. (Datierung)

In einem späteren Schritt der Arbeit: Welche Theorien vertritt die Sekundärliteratur dazu mit welchen Argumenten ?

 

Der Text und seine Auslegungsgeschichte

Die Entdeckungen am Text sollen ins Gespräch gebracht werden mit (ausgewählten) Kommentatoren aller Zeiten – vom Midrasch über die mittelalterlichen Ausleger bis zur Gegenwart.

Welche Fragen / Themen / Beobachtungen haben die Kommentatoren beschäftigt? – Wie kommen die Kommentatoren zu ihren Positionen? (Wer waren sie? Was war das Ziel ihrer Auslegung bzw. welches war ihre Fragestellung?) Was ist das Ziel ihrer Interpretation? Was ist die Besonderheit ihrer Interpretation? Wie stehen Sie selbst zu diesen Interpretationen (was macht den Text stark, was ist ihrer meiner nach nicht einsichtig?)

Midraschim zum Text findet man zum Beispiel mit Hilfe des Buches von
Hyman, Aharon, Torah Hakethubah Vehamessurah. A Reference Book of the Scriptural Passages quoted in Talmudic, Midrashic and Early Rabbinic Literature, 3 Bände, 2. Aufl. Tel Aviv 1979

Für die mittelalterlichen Kommentatoren kannst du eine übliche Mikraot Gedolot Ausgabe benutzen, empfehlenswert ist Torat Hayyim (Mossad ha-Rav Kook) oder Mikraot Gedolot haKeter. Bitte beachte auch die Sekundärliteratur incl. Übersetzungen mit Anmerkunden. Es geht nicht nur darum, den Text selbst zu übersetzen, sondern auch so gut wie möglich zu verstehen.

Zur jüdischen Auslegung der Gegenwart: achte auf den Hintergrund der Autoren von modernen wissenschaftlichen Kommentaren und Sekundärliteratur. Bei der Frage nach der Bedeutungsgeschichte eines Textes ist es auch erlaubt, gedruckte oder online-gestellte Predigten aus neuer Zeit hinzuziehen. (Wichtig ist, dass die Quelle angegeben wird und allgemein zugänglich ist.)

 

Spielt der Text in einer bestimmten Religion oder Gruppe eine besondere Rolle? Wird er liturgisch verwendet oder ist er ein Belegtext für eine bestimmte Aussage? Falls ja, wo?

• Hatte der Text oder ein Vers oder Wort des Textes eine besondere Wirkungsgeschichte? Wie konnte es dazu kommen?

• Rückkopplung mit dem eigenen Vorverständnis (siehe erste Frage): in welcher Tradition der Auslegungsgeschichte befindet es sich?

Diese Fragen kannst du wahrscheinlich nur in einem fortgeschrittenen Stadium des Studiums beantworten. Wenn du bereits jetzt etwas zu diesen Fragen schreiben kannst, ist das schön, wenn nicht, ist es nicht schlimm. (Aber versuche zumindest, etwas herauszubekommen.)

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Diese Leitfragen sind nur eine ganz allgemeine Checkliste, die hilft zu prüfen, ob man nichts Wichtiges vergessen hat. Nicht alle Fragen können auf jeden Text angewendet werden! Die Leitfragen sollen nicht die Kapitel der Arbeit sein! Bitte nur als Checkliste betrachten! Es ist nicht verboten, auch andere Fragen zu stellen, wenn sie sich aus dem Text ergeben!

Es ist ratsam, die Sekundär-Literatur erst nach ersten eigenen Beobachtungen am Text heranzuziehen, um offen zu sein für Fragen des Textes und sich nicht von den Fragen der Literatur dominieren zu lassen. Die Gefahr besteht, dass man Lesefrüchte zusammenschreibt - das ist nicht der Sinn der Sache! Die Sekundärliteratur sind vielmehr Dialogpartner. Sie sollte auf bestimmte Aspekte hin befragt werden. Dabei bitte die jeweils eigenen Positionen der Autoren unbedingt beachten – was war ihnen wichtig? Die Positionen der Literatur sollten in der Arbeit dialogisch-argumentativ präsentiert werden (Lasst die Autoren fiktiv miteinander sprechen).